
Ein ganzes Leben auf wenigen Seiten, das Unglück einer Liebestrennung eingefangen in schlaglichtartigen Beobachtungen: Die amerikanische Autorin Lydia Davis ist eine Meisterin der kleinen Form. Der Grazer Droschl Verlag hat sich ihrem Werk verschrieben und nun liegen dort nach bereits fünf veröffentlichten Büchern ihre ersten Geschichten aus dem Jahr 1986 auf Deutsch vor: Es ist, wie’s ist. Hervorragend übersetzt von Klaus Hoffer.
Die Geschichte ist bekannt und wurde schon oft erzählt: Es geht um Liebe und Eifersucht, um die Frage, kann ich ihm vertrauen oder gibt es eine andere? Lügt er, will er mich noch wie ich ihn? In der ersten „Story“ betitelten Story des Bandes wird das ganze Elend des Misstrauens durchdekliniert: „liebt er mich oder nicht; wie sehr; ist er fähig mich zu betrügen, auf frischer Tat, und nach der Tat im Drüber-Reden.“ Antworten gibt es keine in dieser rasanten Gefühls-Tour-de-Force einer Frau, die nicht mehr weiß, ob sie dem Geliebten noch trauen kann. In einer anderen Geschichte ist das Liebesende längst besiegelt, als die Frau einen Brief von ihrem Ex-Mann bekommt, der sie in totale Verwirrung stürzt. Sie sucht wieder nach Zeichen der Hoffnung und der Wahrheit – zwischen den Zeilen eines französischen Gedichts, denn nur das hat er ihr geschickt. Kein weiteres Wort der Erklärung.
Es gibt in den kurzen, insgesamt vierunddreißig Texten von Lydia Davis überhaupt kein Wort, das zu viel wäre, keine erzählerische Abschweifung, die nicht das Zentrum eines Menschen oder einer Handlung trifft. Ein verlassener Mann macht – in der Titelgeschichte – einen Kassensturz: Was hat ihn seine Liebesgeschichte gekostet, wie viel hat er für das Flugticket, das Hotel ausgegeben, was kommt am Ende pro Stunde, pro Minute heraus? Was jedoch von den Erinnerungen an eine große Liebe und Leidenschaft bleibt, das ist allein der unberechenbare, nicht endende Schmerz – und der ist nicht pekuniär aufzulisten.
In diesem ersten Band ihrer „Collected Stories“ ist die Autorin schon auf der Höhe ihres literarisch-verdichteten Könnens, verfügt bereits eindrucksvoll über die Fähigkeit, ihre Protagonisten mit den entscheidenden Fragen zu konfrontieren und Menschen in vertrackten Lebenslagen genau wahrzunehmen. Im Zentrum stehen Liebesverwirrungen und Familienaversionen, die unbezähmbare Angst einer älteren, weibliche Allerweltsträume einer jüngeren Frau oder die anstrengende Verlogenheit in Patchwork-Familien; es wird in einem verstörenden Märchenton von der grausamen Beziehung einer Mutter zu ihrer Tochter erzählt, ein Kriminalfall kommt leichtfüßig getarnt als Französischlektion daher und eine groteske Dystopie variiert die Seelenlosigkeit der Massengesellschaft.
Lydia Davis ist eine ebenso kluge wie unkonventionelle Beobachterin menschlicher Verhaltensweisen und Empfindungen. In der letzten der hier versammelten frühen Geschichten geht es um eine Frau, die nicht mehr weiß, wie und wo sie leben soll. Sie ist eine Meisterin der lähmenden Selbstwahrnehmung. Am Ende dieser minutiös beschriebenen Introspektion ist die Protagonistin sich trotzdem sicher, dass sie irgendwie weiterleben wird. Das ist die tröstliche Lehre aus den Geschichten von Lydia Davis: Es ist nicht nur, wie es ist, es geht auch irgendwie weiter.
Manuela Reichart
(adaptiert und erweitert, Originalbeitrag auf Deutschlandfunk Kultur; Foto von couleur)
- Lydia Davis: Es ist, wie’s ist. Stories. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Klaus Hoffer. Graz: Literaturverlag Droschl 2020. 176 Seiten, gebunden. 22 Euro