Gedichte, die uns ersetzen
oder: die Vielstimmigkeit des Zerfalls
(Notizen zu Verena Stauffers Ousia)
Wir können uns Verena Stauffers Gedichte als Herbarium vorstellen, als eine Sammlung konservierter, getrockneter und gepresster Pflanzen. Die einzelnen Pflanzen beziehungsweise ihre Teile sind dabei als Einheit erkennbar auf einem sogenannten Herbarbogen aufgeklebt. Dabei gelten strenge Regeln: Sie sollten von einem „Aufsammlungsereignis“ stammen, und es ist wichtig, die „Fundumstände“ zu dokumentieren: Datum, Fundort, Sammler*in etc.
Der Titel – Ousia – lässt sich mit „Substanz“ oder „Essenz“ übersetzen, es geht um Beständigkeit, um eine fortdauernde, zeitunabhängige Identität der Dinge. Die in Zyklen arrangierten Gedichte sind „Aufsammlungsereignisse“, vielleicht auch Tatorte, es geht um „Männer, die ihrer Frauen Köpfe schnitten, um sie zu tauschen“, um die „Erinnerung an einen längst vergessenen Blumenstrauß“, um aussterbende Farben, die „Vielstimmigkeit des Zerfalls“.
Ein Herbarium macht es möglich, Pflanzen unterschiedlicher Herkünfte zu vergleichen und unsichere Bestimmungen zu überprüfen. Es ist daher naheliegend, dass sich Verena Stauffers Gedichte auch mit dem menschlichen Gedächtnis und unserem Erinnerungsvermögen beschäftigen. Das spätere Bestimmen einer fürs Herbarium gesammelten Pflanze ist fast immer möglich, weil ihre charakteristischen Strukturen beim Trocknen und Pressen erhalten bleiben. Farben können ausbleichen und sich verändern, aber auch hierfür gibt es Übersetzungen: gelbe Pflanzenteile werden zum Beispiel nach dem Trocknen langsam schwarz. (Vielleicht ist es also kein Zufall, dass auch das Cover in genau diesen beiden Farben gehalten ist.)

Diese (botanische) Lesart allein greift aber zu kurz. In Ousia begegnet uns Leser*innen nämlich auch das Gegenteil von Trockenheit: in Form von Wasser. Die Gedichte als feinmaschige Netze, aber trotzdem: „hier [im Fluss, im Meer] ist nichts zu fassen, nichts zu halten“ und „niemand weiß, wie tief der Schlamm reicht“. Haben uns die anderen Texte, hat uns die erste Lesart noch im Glauben gelassen, Erinnerungen speichern und konservieren zu können, so werden wir hier enttäuscht. Es gibt einen Wunsch, heißt es, „er ist schwer zu heben“, er liegt am Grund des Meeres, unberührt. Vielleicht handelt es sich dabei um die Sehnsucht nach Beständigkeit, nach „Ousia“. Sobald sich das Wasser in Eis verwandelt, geht es um zwischenmenschliche Beziehungen, um die Austauschbarkeit der Partner*innen – „doch gefriere ich wie neuer Schnee auf altem“, oder um die Auflösung im Gegenüber – „ich werd’ zu Eis, du trägst mich ab, bis ich in dir zergehe“. Das Wasser, vielleicht auch die Sprache in den Gedichten folgt dem „Prinzip des kleinsten Zwangs“, die Zeitebenen werden aufgehoben, was bleibt ist: „ein zusammenfließendes Vielfaches von Jetzt“.
Vom Herbarium also werden wir ins Wasser, ins Meer mitgenommen, aber hier endet unsere Reise nicht. Und es ist mehr als passend, dass wir auch dem Mond einen Besuch abstatten. Es ist die notwendige dritte Eskalationsstufe: im Herbarium das Greifbare, der unmittelbaren Natur und Umgebung Entnommene, im Ozean das sich uns Entziehende, schwer zu Fassende, und jetzt das Weltall: als Projektionsfläche für jede beliebige Sehnsucht, das Weltall: das uns umbringen will, nicht nur mit seiner Endlosigkeit. Der Mond ist „eine Landschaft aus nicht verrottenden Dingen“, die restlichen Sterne „gedroschen, verlebt, verbraucht“, Mosaike, die klirren im Zerbrechen. („Ein Sommer am Mond“ heißt es in einem der Texte und ganz ehrlich: Ich würde sofort buchen.)
Ousia ist ein Buch über Übergänge, über die Grenzen des eigenen Erinnerns, über zum Scheitern verurteilte Versuche, etwas dauerhaft zu konservieren. „Was ist ein Übergang, ein Kokon?“ fragt eines der Gedichte. Und es ist tatsächlich möglich, die Texte immer wieder neu zu lesen, mit neuen Augen, mit neuen Händen, und sie jedes Mal in einem anderen Entwicklungszustand zu erwischen, einen anderen Ausschnitt wahrzunehmen und zu vergrößern. Die Texte lassen sich nicht eindeutig bestimmen und in einem Herbarium ausstellen. Und das ist auch ihre große Stärke. Dass sie schwimmen: mit den Fischen, dass sie treiben: in ihrer eigenen Umlaufbahn.
„Ich höre nicht auf, bis ich als totes Wort im Fluss treibe, münde“ – diese Aussage des lyrischen Ichs würde ich gerne mit einem Versprechen der Autorin, mit einem Versprechen von Verena Stauffer verwechseln.
Dank an Martin Peichl
(Fotos Martin Peichl, Foto der Autorin © Walter Pobaschnig)
- Verena Stauffer: Ousia. Berlin: kookbooks 2020. 120 Seiten, gebunden. 19,90 Euro