Ein Mann erfährt am Telefon vom Tod seiner Frau. Nicht unerwartet kommt dieser, sie war sehr krank gewesen. Er verlässt sein Büro in dem Wissen, nun ganz schnell alles für die Beerdigung regeln zu müssen. Es ist Samstag, er sollte sich beeilen. Doch N., der Protagonist des Romans Die Asche des Tages, verliert sich vollständig in den kommenden sechsunddreißig Stunden.
Der Autor Máirtín Ó Cadhain gilt als der irischsprachige James Joyce und ist seinerseits ein Mythos. Geboren wird er 1906 als eines von dreizehn Kindern eines Bauernehepaares. Er wird Lehrer, später Übersetzer, er engagiert sich für die Verbesserung der Lebensbedingungen der Bevölkerung und ist politisch aktiv. Für seine Überzeugungen sitzt er lange Zeit in einem Internierungslager. Er schreibt Kurzgeschichten und Romane und hört sein Leben lang nicht auf, sich für die irische Sprache und Kultur einzusetzen. Cadhain stirbt 1970. Die Asche des Tages erscheint im selben Jahr. Und jetzt, fünfzig Jahre später, veröffentlicht der Stuttgarter Kröner Verlag sein Meisterwerk in der Übersetzung von Gabriele Haefs. Ein geglücktes Unterfangen.
Cadhain lässt einen Erzähler auf die Geschehnisse blicken. Dieser berichtet, was N. tut, was ihm durch den Kopf geht, notiert N.s Gespräche, seine Ängste und Sehnsüchte, seine versponnenen Gedanken und widersprüchlichen Gefühle. Es entwickelt sich ein starker Sog, der die LeserInnen immer mehr in die Wirklichkeit Ns. hineinzieht. Dieser bewegt sich unablässig an die Beerdigung und an all die damit verbundenen Aspekte denkend durch die Stadt: Wie kann er einen günstigen Bestatter auftreiben? Wo einen Priester finden, der nicht viel Geld verlangt? Was für einen Sarg soll er auswählen, einen billigen natürlich?
Wie werden sich vor allem die bösen Schwägerinnen ihm gegenüber verhalten, wenn er erst einmal zu Hause ist? Die Schwestern seiner Frau sind wie Gralshüterinnen: Sie bewachen ihre Schwester, warten gierig auf den Leichenschmaus, sind nur auf das Geld von N. aus, greifen nach seinem Leben. Sie sind mit ein Grund, dass er nicht nach Haus möchte.
N. verstrickt und versteigt sich zunehmend, verliert darüber auch vollkommen seine Fähigkeit, andere Menschen und seine eigene Situation einzuschätzen.
Auffällig ist, dass er ganz und gar vor der Trauer flieht. Kein Gedanke an seine Frau, kein Gefühl von verlorener Liebe. Er schiebt dies alles so weit wie möglich weg von sich und damit sich selbst womöglich aus der Realität.
Er denkt seine Frau als einen „Leichnam“, dieses Wort ist auf einer einzigen Seite genau zehn Mal zu lesen. Einmal bezeichnet er diesen sogar als „Rohmaterial“.
Wenn überhaupt etwas sicher war, dann der Leichnam, dieser Leichnam, dieser Körper, der der Ursprung aller Sorgen und allen Kopfzerbrechens war. Es war kaum zu glauben, dass etwas so Schweres, Bleiernes, so Gefühl- und Atemloses wie ein Leichnam einen solchen Wirbelwind aus Sorgen auslösen, die Lebenden in eine solche Falle der Verantwortung hineinmanövrieren konnte …
Am Ende steht er am Meer, blickt auf das Wasser und findet noch einen „Lebensfunken“ in sich: „Er hob die Blicke gen Westen, streifte den winzigen Sprenkel schwelenden Sonnenlichts am Horizont, über der Asche des endlich vergangenen Tages …“
Cadhain versteht es meisterhaft, die Verzweiflung N.s, seinen zunehmenden Realitätsverlust, die Suche, den Strudel der Gedanken, die Sehnsucht nach Flucht, auch aus der Verantwortung, das Greifen nach jedem Strohhalm darzustellen. Eingebettet in die Besonderheiten Irlands, das nicht nur Kulisse ist. Und zu denen auch die Nähe von Tragik und Komik gehört.
Dank an Petra Lohrmann
(Foto von kkomputing)
- Máirtín Ó Cadhain: Die Asche des Tages. Aus dem Irischen von Gabriele Haefs. Stuttgart: Kröner Verlag 2020. 160 Seiten, Halbleinen. 18 Euro.