Eliot Weinberger, geboren 1949 in New York, wird als „Poet unter den Essayisten“ bezeichnet. In seinem neuen Band Neunzehn Arten Wang Wei zu betrachten trägt er Übersetzungen eines 1200 Jahre alten chinesischen Gedichts zusammen, beleuchtet diese, berichtet in zwei Nachträgen aus seiner Werkstatt. Er führt in die Welt der Nach-Dichtungen ein und gibt dabei einen tiefen Blick in die Erschaffung des „Universums Sprache“.
Das Faszinierende ist, dass das sehr schön edierte Büchlein aus dem feinen Hause Berenberg Verlag kein Fachbuch für Übersetzer ist, sich auch nicht ausschließlich an Lyrikliebhaber wendet, sondern Einsichten zulässt, die jede Lektüre bereichern wird. Eliot Weinberger macht auf kleinste Nuancen aufmerksam, er wiegt das Gewicht der Worte, er führt vor Augen, in welch andere Richtung eine Vorliebe des Übersetzers führen kann oder wie offen oder geschlossen eine Übertragung ist.
Diese Gedanken gelten für jeden Text, Weinbergers Ansatz sensibilisiert den Leser, betont die Achtsamkeit, die das Lesen braucht, weist darauf hin, dass jeder Leser ein „Verwandler“ ist, einer, der sich einen Text anverwandelt. Übersetzungen sind „gedruckte“ Verwandlungen, die der Leser finden „in den Köpfen“ statt.
Das Gedicht, um das es geht, stammt aus der Feder Wang Weis (ca. 700–761), es ist ein Vierzeiler, Teil einer Folge von zwanzig Gedichten, die auf eine Bildrolle geschrieben waren. Die Elemente des Gedichts sind: „ein Berg, ein Wald, das Licht der untergehenden Sonne, das auf eine moosige Stelle fällt.“ Weinberger beginnt mit einer tabellarischen Übersicht, „Übersetzung Zeichen für Zeichen“, die schon erahnen lässt, wie mannigfaltig die Möglichkeiten sind.
Es folgen Übersetzungen des Gedichts aus den Jahren 1919–1978, die meisten in englischer Sprache. Diese Beispiele wiederum sind auch auf Deutsch zu lesen.
Es gibt auch Übersetzungen von Dichtern, die selbst kein Chinesisch konnten – und die gehören laut Weinberger mit zu den besten. Vor allem Ezra Pound: Er „erfand“ mit Cathay (1915) die chinesische Dichtung seiner Zeit.
Anstatt das Original in das Korsett traditioneller Versformen zu zwängen, (…) schuf Pound aus allem, was ihm an der chinesischen Dichtung einzigartig erschien, eine neue englische Dichtung. (…) Pounds geniale Entdeckung war die lebendige Materie – die Kraft – des chinesischen Gedichts, die Neuigkeit, die neu bleibt, wie er es nannte, über Jahrhunderte hinweg. Diese lebendige Materie funktioniert in etwa wie eine DNA, die einzelne Übersetzungen ausspinnt, Verwandte des Originals, keine Klone.
Schön, dass der Berenberg Verlag den Neunzehn Arten weitere, neuere Übersetzungen hinzugefügt hat, denn der Band erschien im Original bereits 1979. Die jüngste stammt aus dem Jahr 2006. Zu guter Letzt finden sich darin noch „Neuere deutsche Nachdichtungen“, anmutige Gedichte von Ulrike Draesner, Michael Krüger, Monika Rinck und anderen namhaften Lyrikern.
Zwei Kostproben seien hier zitiert, beide von Ulrike Draesner:
Leer der Berg, keine Seele angetan
Nur der Wörter Reise, Echokammer Ohr.
Greift dunkelhell der Stern ins Holz
glänzt grün blau schwarz das Moos hinan.
(Übersetzung nach Bedeutungen)
Mensch, den Blick nicht trifft, leer als Berg
reist Wort von Stein zu Stein, reist Hall.
Am Grund dreht Wald die Nacht um sich
grün schwimmt von Moos zu Moos das Licht.
(Übersetzung in vier x acht Ein-Silben)
Es ist eine Freude, den vier Zeilen Wang Weis durch die Zeiten zu folgen, eine ebensolche Freude ist es, den Gedanken Eliot Weinberger nach-zu-denken.
Die Neunzehn Arten verändern das Lesen, das „poetische Empfinden“, wie Octavio Paz in seinem Nachwort schreibt. Ein Dank geht auch an die Übersetzerin aus dem Englischen, Beatrice Faßbender, die Weinbergers Essays glänzend übertragen hat.
- Eliot Weinberger: Neunzehn Arten Wang Wei zu betrachten. Übersetzt von Beatrice Faßbender, mit einem Nachwort von Octavio Paz. Berenberg Verlag, 2019, 114 Seiten. 18 Euro