Rund um die Uhr und überall (offline) Gedichte zur Verfügung zu haben, ohne ein gedrucktes Buch in die Hand nehmen zu müssen. Morgens zum Aufstehen schon das „Gedicht des Tages“ lesen und am Abend dann ein „Zufälliges Gedicht“. Ein Leben voller Poesie – so einen Traum hatte vielleicht Lukas Hermann, ein junger Literaturwissenschaftler, als er vor zwei Jahren seine App Poesi entwickelte, eine „digitale Sammlung deutscher Gedichte von den Anfängen im Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert“. Bei einem großen Update im Herbst wurde die App (für iOS und Android) um über tausend Gedichte in englischer Sprache erweitert und ist nun international ausgerichtet./red.
Axel von Ernst im Gespräch mit Lukas Hermann
Zum Einstieg die denkbar allgemeinste Frage, um etwas über Poesi zu erfahren: Welchen Sinn hat es für dich ergeben, eine Lyrik-App zu entwickeln und zu veröffentlichen?
Ich denke, dass der Literaturbetrieb im Punkt der digitalen Vermittlung mancher Inhalte nicht selten noch einiges zu tun hat. Zugegebenermaßen lassen sich visuelle Inhalte wie Filme oder auch Malerei auf Smartphones leichter zugänglich darstellen und so vermitteln. Aber kleine Formen wie das Gedicht haben meiner Ansicht nach auch eine gute Chance. Poesi ist mein Weg zu zeigen, wie es gehen könnte, und zugleich ein Experimentierfeld für neue Herangehensweisen.
Wie versucht die App denn Lyrik zugänglich zu machen?
Gedichte lesen macht nur dann mehr Freude, wenn es häufiger getan und so der Umgang auch mit sperrigeren Texten von Tag zu Tag leichter wird. Die App versucht, die Hemmschwelle zu verringern, indem es keine Zugangshürden wie Kenntnis über Autoren oder wichtige Themen und Epochen der Literaturgeschichte gibt. Ein Tipp in der App reicht, um sich ein zufälliges, aber handverlesenes und korrekt wiedergegebenes Gedicht anzeigen zu lassen. Ohne Ablenkung durch Werbung oder Menüs kann dann gelesen werden. Auch können Leser täglich erinnert werden, das „Gedicht des Tages“ in Poesi zu lesen.
Was für Gedichte kann man da lesen?
Als Literaturwissenschaftler, der ich bin, hatte ich den Anspruch, die Literaturgeschichte so breit und komplett wie möglich abzubilden. Es sind daher sorgfältig ausgewählte Gedichte von frühen mittelalterlichen Hofdichtern genauso vertreten wie Liedtexte aus der Renaissance, der Weimarer Klassik, Romantiker und moderne Autoren. Nach und nach erweitere ich die Datenbank auch durch SchriftstellerInnen jüngeren Datums, nur Gegenwartslyrik fehlt momentan noch. Daran wird aber gearbeitet.
Und jetzt gibt es auch fremdsprachige Gedichte im Original.
Richtig, neben einer Datenbank von über 1000 deutschen Gedichten gibt es jetzt nahezu ebensoviele in englischer Sprache. Damit soll natürlich deutlich gemacht werden, dass das Schreiben von Gedichten ein weltweiter und vielsprachiger Brauch ist, der viele verschiedene Weltsichten transportfähig macht.
Auch etwas Eigennutz steckt dahinter: Denn weil ich alle Gedichte vor der Aufnahme in die Datenbanken selbst lese und mit wissenschaftlichen Ausgaben abgleiche, lerne ich sowohl sprachlich als auch inhaltlich täglich dazu.
Du erweiterst die App also regelmäßig?
Ja, sie soll weiter wachsen. Es gibt ja noch einige europäische – und nicht europäische, vielleicht auch antike – Sprachen zu entdecken. Als nächstes ist das Französische dran.
Auch als Instrument für Interpretationshilfen in der Schule oder als Plattform für Nachrichten aus dem Lyrikbereich kann sich eine App wie Poesi durchaus anbieten. Wohin genau die Reise geht, steht aber noch nicht fest, denn finanziell und zeitlich will alles geduldig geplant sein, damit sich das Ganze auch auf Dauer hält.
Danke für das Gespräch!