Tarjei Vesaas: Das Eis-Schloss (Guggolz Verlag)

Foto © Jens Mario (https://www.fotocommunity.de/photo/eiskristalle-jens-mario/39352484)

Doris Lessing schrieb über Das Eis-Schloss von Tarjei Vesaas, es sei einzigartig: „So feinsinnig. So stark. So an­ders als alle anderen.“ Das hymnische Plädoyer der verstorbenen britischen Literaturnobelpreisträ­­­ger­in ist als Nachwort in diesem besonders schön gemachten Band abgedruckt. Und man möchte nach der Lektüre jedes Wort unterschreiben. Erschienen ist er im Herbstprogramm des Guggolz Verlags (siehe Verlagsporträt zum fünfjährigen Jubiläum) und sorgt seitdem für ungebrochene Begeisterung.

Der norwegische Schriftsteller Tarjei Vesaas (1897–1970) ist einer der großen und bedeutenden Autoren seines Lan­des. Zu seinem Anwesen pilgern heute noch viele Anhän­ger. Dass er nie den No­belpreis erhalten hat, kann kein norwegischer Leser verstehen. Und auch aus den vielen norwegischen Neuerscheinungen, die aus Anlass der diesjährigen Frankfurter Buchmesse mit Gastland Norwegen übersetzt wurden, ragt dieser schmale Roman wie ein Solitär heraus.

Im Zentrum stehen zwei kleine Mädchen. Sie gehen in dieselbe Schulklasse: Die mun­tere Siss und die in sich gekehrte Waise Unn. Die eine gehörte immer schon zur Dorfgemeinschaft, die andere ist gerade erst zugezogen. Ihre Mutter ist gestorben und nun lebt sie bei ihrer Tante. Beide Mädchen sind elf Jahre alt und von Anfang an fühlen sie sich zuein­ander hingezogen. Es dauert jedoch eine Weile, bis sie Freundinnen werden, bis die eine die andere einlädt und sie sich einen Abend lang nah sind, voller Vor­freude auf ihre kommende gemeinsame Zeit. Am nächsten Tag, als beide noch von der Intensität der Begegnung erfüllt sind, geht Unn nicht zur Schule. Sie will die Wie­der­begegnung hinauszögern. Stattdessen macht sie einen Ausflug zum eingefrore­nen Was­serfall, zum titelgebenden Eis-Schloss. Sie geht hinein, angezogen von den glitzern­den Räumen, dem hellen Licht – und findet nicht wieder hinaus.
Im zweiten Teil des Romans, der auf eindrucksvolle Weise vom kindlichen Seelenleben erzählt, trauert die zurückgebliebene Freundin. Sie wird so scheu und in sich gekehrt wie die andere es war, sie will um jeden Preis verhindern, dass Unn vergessen wird. Fast verschwindet auf diese Weise auch sie selbst, aber ihre Klassenkameradinnen holen sie am Ende wieder heraus aus der selbst auferlegten Isolation.

Dem Autor ist eine ungewöhnliche Studie über Einsamkeit und Trauer gelungen, geschrieben in einer wunderbaren lyrischen Sprache. Er entwirft poetische Bilder von enormer Kraft, die der Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel bezwingend ins Deutsche übertragen hat. Man meint, die beiden Mädchen zu kennen, ist mit ihnen heiter und vorfreudig und voller Schmerz, weil die Nähe – im wahrsten Sinne des Wortes – endgültig erkaltet ist.

Manuela Reichart
(adaptiert, Originalbeitrag auf Deutschlandfunk Kultur)

  • Tarjei Vesaas: Das Eis-Schloss. Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Berlin: Guggolz Verlag 2019. 199 Seiten, gebunden. 22 Euro.

 

 

 

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