Er fiel, wie ein Mensch über Schnee geht, majestätisch und monoton.
Bald sank er tiefer, wie ein aus der Mode gekommener Schriftsteller, bald flog er hoch über der Welt dahin, wie jene unwiederbringlichen Jahre, da es noch keine Zeugen im Leben gibt.
Er, das ist der Regen, der hier im ersten Abschnitt des Romans Apoll Besobrasow von Boris Poplawski so poetisch beschrieben wird. Der Regen ist nicht das einzige Naturphänomen, dem der Autor sich widmet. Verschiedene Arten von Schnee und Kälte, die Sonne, das Licht, gewaltige Gewitter, die Jahreszeiten ganz allgemein, sie alle geben einen Anlass für ein tiefes, ausführliches, lyrisches und oft symbolisch aufgeladenes Schrift-Gemälde. Betrachtet man diese Naturbeschreibungen im Gesamtzusammenhang des Romans, erscheinen sie wie der Versuch, das eigene Leben in der Wirklichkeit zu verankern – sofern ein Sonnenstrahl oder das Licht des Mondes eine Verankerung sein kann. Sie alle sind jedenfalls der Beweis, dass der Himmel noch nicht eingestürzt ist, dass die Welt draußen noch besteht.
Ein Ich-Erzähler, Wassenka heißt er, erzählt die Geschichte aus seiner Sicht. Wie fast alle Figuren ist er ein russischer Exilant in Paris in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts. Einsam treibt er durch die Stadt.
Meine Seele suchte einen Menschen, dessen Gegenwart mich endgültig von Scham, Hoffnung und Angst befreien würde, und sie fand, was sie suchte.
Seine Seele findet Apoll Besobrasow, einen Mann, der eine ganz eigene und eigenartige Freiheit ausstrahlt.
Ich fand einen Menschen, für den es keine Vergangenheit gab, der die Zukunft verachtete und dessen Gesicht immer einer glühend heißen Landschaft zugewandt schien, … Apoll Besobrasow lebte ganz in der Gegenwart …
Mit diesem Menschen freundet er sich an. Nichts an Besobrasow ist normal im bürgerlichen Sinne. Er ist zugleich nah und fern, er interessiert sich für absonderliche Dinge, er steht in jeder Gruppe am Rand und ist zugleich ihr Mittelpunkt, wie eine Sonne, um die alle kreisen– in der Hoffnung, wahrgenommen zu werden. Er ist einer, der nur seiner eigenen inneren Stimme folgt, der auftaucht und verschwindet, nichts erklärt, sich nicht an einen einzelnen Menschen bindet – ein Fremder, wie er immer wieder in der Literatur anzutreffen ist.
Die beiden Männer verbringen ihre Tage und Nächte zusammen. Sie streunen umher, beobachten die Passanten, vor allem die Damen, besuchen ein Kino oder den Jahrmarkt, sie lassen sich treiben, sie philosophieren, sie trinken. Besobrasow misst sich mit anderen beim Sport. Sie bewohnen bald gemeinsam ein Zimmer, beide haben kein Geld. Das Leben fließt dahin, es kennt kein Ziel, keine Zukunft.
Im fünften Kapitel ereignet sich ein Ball. Er ist ein erster Höhepunkt des Romans, quasi eine Zeitenwende. Minutiös beschreibt Poplawski, wie man sich einfindet, sich begegnet, erwärmt, dem Champagner zuspricht (und auch billigeren Getränken), wie der Tanz beginnt, Fremde dazukommen, eine erotische Spannung entsteht, Witzbolde versuchen, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, während andere lieber beobachten – dieses Ball-Kapitel beschreibt die Welt en miniature, jeder Versuch, seinen Zauber hier wiederzugeben muss scheitern, denn eben dieser Zauber liegt in der Sprache, in der genauen Wortwahl.
Eine der Fremden, die hier auftauchen, ist Thérèse, eine junge Frau, die gar nicht in diese Umgebung passt.
In ihnen (ihren Augen) lag nur jener einfache, unberührte Ernst, den es bei Kindern oft gibt und der unter dem übelriechenden Gluthauch der Ironie meist abstirbt; im Erwachsenenalter zeugt er von einer zutiefst reinen, fast heiligen Seele.
Mit Thérèse nimmt der Roman eine Wendung. Zuerst erzählt Poplawski ausführlich von ihrer Herkunft, ihrem Leben und wie sie auf dem Ball landete. Und wie es kommt, dass sie bei Wassenka und Besobrasow bleibt. Zuerst in dem kleinen Zimmer, später in einem größeren Gartenhaus, in dem sich die Gruppe um diverse Mitglieder vergrößert. Weitere Exilanten schließen sich ihnen an: der Wächter jener Villa, zu der das Gartenhaus gehört, Zeus genannt, außerdem ein Blumenzüchter und Philosoph, Averroes, zeitweiliger Arbeitgeber Besobrasows, der dort die Aufgabe hatte, Blumen gezielt zu vergiften, um neue und ungewöhnliche Formen hervorzubringen. Thérèse ist die Einzige, die nicht im politischen Exil lebt. Doch sie ist eine ebenso verlorene Seele, die (vielleicht) erst ganz am Ende des Romans eine Heimat findet, auch eine geistige.
Noch ist die Gruppe fest zusammengefügt, „Liebe, Mitgefühl, Wissbegier und Bewunderung“ schweißten „uns untrennbar zusammen“. Die letzte Station des gemeinsamen Lebens ist ein Schloss hoch über dem Gardasee. Hier taucht plötzlich die Vergangenheit von Thérèse in Gestalt eines ehemaligen Priesters auf, der die Kirche aus einer wahnhaften Liebe zu ihr verließ. Es kommt zu dramatischen Ereignissen, die die Gruppe schließlich sprengen. Ein jeder ist wieder für sich allein.
In allem, was diese Menschen unternehmen, auch wenn sie Musik machen oder Feste feiern, in allem ist eine tiefe Traurigkeit und Verlorenheit zu spüren, eine Haltlosigkeit und Einsamkeit, die als Freiheit umgedeutet wird. Poplawski selbst hat 1917 mit dreizehn Jahren seine Heimatstadt Moskau verlassen. Einer Odyssee durch diverse Städte folgte eine Wiedervereinigung mit einem Teil der Familie in Paris, doch Poplawski blieb ein Entwurzelter. Er war weder Teil der Exilantenszene, er orientierte sich vielmehr an den französischen Symbolisten oder an Joyce, noch war er auch nur Teil der bürgerlichen Gesellschaft. Eine Heimat konnte er nur in der Freundschaft finden: „Man schreibt nicht für sich und nicht fürs Publikum. Man schreibt für seine Freunde.“
Das Umkreisen und Aufblättern des Themas Freundschaft prägt seinen Roman Apoll Besobrasow, doch ist dieser keine Ewigkeit vergönnt. Vielleicht bräuchte es dafür mehr Halt im Leben, Wurzeln, die ein Mensch im Exil nicht selbstverständlich neu ausbilden kann.
1935 setzt Boris Poplawski seinem Leben mit nur zweiunddreißig Jahren ein Ende. Eine Überdosis Drogen, ob gewollt oder zufällig, darüber wurde viel spekuliert. Sein Roman war zwischen 1926 und 1932 kapitelweise in Exilzeitschriften erschienen, nun liegt er im engagierten und wiederentdeckungsfreudigen Guggolz Verlag erstmals auf Deutsch vor. Übersetzt wurde er von Olga Radetzkaja, die Großartiges geleistet hat. Sie transponiert die kraftvollen und wilden Bilder, die rhythmisch-lyrische Sprache vortrefflich in ein sehr gut lesbares Deutsch, dem die Verlorenheit und Traurigkeit der Geschichte eingeschrieben bleibt.
Dank an Petra Lohrmann
(adaptiert, Original erschienen auf Gute Literatur – Meine Empfehlung)
- Boris Poplawski: Apoll Besobrasow. Aus dem Russischen und mit einem Nachwort von Olga Radetzkaja. Guggolz Verlag 2019. 299 Seiten, gebunden. 24 Euro.