Oğuz Atay wird, wie in seiner Vita auf der Seite des binooki Verlags beschrieben, in Literaturkreisen gerne ein „Spielverderber“ genannt. Natürlich in Unkenntnis darüber, wie andere Kritiker und Autoren dies begründen, finde ich, dass diese Bezeichnung einen guten Ausgangspunkt bietet, um über Atay und Die Haltlosen“ nachzudenken. Ein einfaches Buch liegt hier sicher nicht vor, dafür eines, das sich jeglicher Einordnung widersetzt, bis zum Schluss überrascht, unterhält und manchmal auch erschreckt.
Eine Reise weg von sich selbst
Turgut, zunächst einmal die Hauptfigur, erfährt, dass sich sein guter Freund Selim das Leben genommen hat. Offenbar hat Turgut schon länger keinen Kontakt mehr zu Selim gehabt, trotzdem hatte er einen festen Platz in seinem Leben. Nun, da er tot ist, kreisen seine Gedanken ständig um ihn und er versucht, möglichst viel herauszufinden, indem er andere Freunde Selims aufsucht und Aufzeichnungen liest, die dieser hinterlassen hat. Durch die Beschäftigung mit Selim, der „Selimologie“, tritt Turguts eigenes Leben mit der Zeit immer weiter in den Hintergrund, die Ich-Grenzen werden durchlässiger; manchmal scheint er sich sogar in Selim zu verwandeln. Er bleibt als Charakter zwar bis zum Ende präsent, tritt aber oft hinter anderen Erzählenden – Selims Freunden oder Personen, die aus den Aufzeichnungen auftauchen – zurück, sodass man ihn beinahe vergessen könnte.
Der Roman besteht aus vielen Teil-Erzählungen, die in unterschiedlichen Sprachformen erscheinen: Gesänge, Tagebuch, wissenschaftliches Werk mit Anmerkungen (oder nur Anmerkungen), Geschichtsbücher, Heiligenlegende, Pamphlet, Sportkommentar, Brief, oft auch der in vielen Werken der Postmoderne beliebte stream of consciousness. Was den Zugang zur Sprache angeht, hat der Autor offenbar gern gespielt. Eine Genreparodie entsteht bei ihm zum Beispiel durch die bewusste Übertreibung der Form und die überreiche Verwendung stilistischer Figuren: „Als die Propheten in Kleinasien arrivierten, war das Territorium komplett mit Ruinen und Ignoranz übersät. Sie kamen, inspizierten, therapierten, fundierten eine neue Ordnung und importierten die Zivilisation. (…) Und als sie kamen, siehe, da wurden sie nicht honorierend empfangen. In der postfinalen Phase ihrer langen und strapaziösen Reise boten sie einen deplorablen externen Aspekt und ihre Textilien waren komplett mit Kreaturen minimaler Größe besudelt.“
Auch das Textbild spielt zum Teil mit. Dann ist die Erzählung etwa in Reimen verfasst, aber in Prosa gesetzt, was wieder einmal klarmacht, wie sehr wir unser Lesen von der äußeren Form abhängig machen.

Ein mehrdimensionales Buch
Würde man davon ausgehen, dass die Struktur und der innere Aufbau auch nach außen hin sichtbar wären, dann könnte ich mir Die Haltlosen als eine Art Pop-Up-Buch vorstellen. Man blättert um, und eine neue Figur steigt heraus, diese kann man weiter ausklappen, denn sie erzählt wiederum eine Geschichte; man zieht an Pfeilen, und es tauchen versteckte Bilder auf; manche Seiten sind als Leporello gestaltet und zeigen mit jeder Auffaltung eine weitere Geschichte. Auch dies deutet nicht unbedingt auf einen Spielverderber hin, vielmehr auf einen Autor mit großer Lust am Erzählen, der sich nicht von konventionellen Formen leiten ließ. Vielleicht macht ihn dies zum Spielverderber, dass er sich nicht an literarische Vorgaben und Moden hielt, denn ein herkömmliches Spiel hat Regeln. Ich war beim Lesen oft versucht, den Roman als Ganzes im Auge zu behalten, war dann oft nicht mehr sicher, wer jetzt gerade spricht. Wahrscheinlich entsteht das größte Lesevergnügen – und Vergnügen macht das Buch auf jeden Fall –, wenn man sich einfach auf den Textfluss einlässt und akzeptiert, dass jedes Bild und jede Geschichte nicht unbedingt eine Funktion im Text hat, sondern für sich allein stehen kann. In Bezug auf Turgut und seine Bemühungen ist Die Haltlosen ein Buch über das Interpretieren, über den Versuch, die Zeichen, die man zur Verfügung hat, zu deuten. Aber die Zeichen haben keine Repräsentationsfunktion mehr, und jeder Versuch des Entschlüsselns reißt Turgut in eine neue Geschichte. In dieser Hinsicht passt Atays Roman gut zum Poststrukturalismus; Bedeutungen sind nicht mehr klar festgelegt, und der Text wuchert selbständig nach allen Seiten weiter. Das klassische „Spiel“ der Hermeneutik kann also hier kaum mehr betrieben werden. Dafür hat der Autor als Rahmen ein ganz klassisches Motiv gewählt: Der Roman sei, wie ein Vorwort erklärt, als Textkonvolut von Turgut an einen Journalisten geschickt worden, mit der Bitte um Veröffentlichung. Im Grunde wiederum ein Spiel des Autors, der vorgibt, nicht selbst der Verfasser zu sein.
Der Haltlose, ein gar nicht so seltenes Tier
Selim ist auf jeden Fall ein Spielverderber. Auch wenn er immer klarer hervortritt und man ihm oft schmerzlich nahe kommt, so entzieht er sich einer endgültigen Einschätzung und Einordnung. Hier sind wir nun beim Konzept der „Haltlosen“ angelangt. Atay meint damit, wenig verwunderlich, Außenseiter, die nirgends fest verwurzelt sind, treibt die Idee aber bis zu einer zoologischen Klassifizierung. Diese ist, ähnlich wie das „Traktat vom Steppenwolf“ bei Hesse, in den Text eingefügt:
„Der Haltlose (disconnectus erectus) ist ein unbeholfenes und furchtsames Tier. Manche Vertreter seiner Spezies wachsen bis zu menschlicher Größe heran. Auch seine Physiognomie ähnelt auf den ersten Blick der eines Menschen. Allerdings sind seine Klauen und insbesondere seine Krallen äußerst schwach. Auf abschüssigem oder stark ansteigendem Gelände findet er daher keinen Halt und rutscht ab (wobei er nur allzu oft aus dem Gleichgewicht gerät). (…) Die Männchen stoßen, wenn sie allein gelassen werden, bittere Klageschreie aus. Mit dem gleichen Schrei rufen sie auch nach ihren Weibchen. Im Allgemeinen siedeln sich Haltlose in den Nestern anderer Tiere an (…).“
Selim gehörte zu den Haltlosen, genauso seine Freunde, die Turgut nach und nach aufsucht. Jedoch haben sie nicht die Fähigkeit, sich zu einer Gemeinschaft zusammenzuschließen, was ebenfalls ein Merkmal der Haltlosen ist. Dies erklärt, warum Turgut keinen einzigen von Selims Freunden kannte, ebenso wie sie sich untereinander nicht kennen. Man könnte auch sie als Spielverderber bezeichnen: Sie sind nicht fähig, am Spiel des Lebens teilzunehmen, und bringen durch ihr Unvermögen ihre Mitmenschen immer wieder in Rage. Rein äußerlich scheint Selim zwar in der Gesellschaft angekommen, er studiert, arbeitet danach als Ingenieur, hat eine Freundin. Doch im Grunde verhält er sich passiv und drückt mit seinem ganzen Dasein ein Nein aus; kein Wunder, dass ihn die Romanfigur Oblomov besonders beeindruckt.
Das Spiel mit anderen Büchern
Auch andere Werke erscheinen immer wieder im Vorder- und Hintergrund des Romans. Selim ist ein Verehrer der russischen Autoren, auch Kafka wird sehr häufig zitiert. Der Umgang mit Intertextualität passiert, so scheint es mir, vor allem in der Form: Es geht nicht primär darum, Autorennamen und Zitate einzufügen, sondern um einen spielerischen Umgang mit verschiedenen Schreib- und Sprechweisen, ebenfalls im Sinne des Poststrukturalismus: „Alle literarischen Texte sind aus anderen literarischen Texten gewoben“ (Terry Eagleton), wobei es sich bei Atays Einflüssen genauso um nicht-literarische Genres und Gebrauchstexte handelt. Häufige Kafka-Lektüre des Autors scheint aber sicher, die zahlreichen komisch-übertreibenden Beschreibungen von Behördengängen und dem Umgang mit Vorgesetzten könnten direkt aus dessen Werk entlehnt sein, oder auch aus Atays eigenen Erfahrungen im Ingenieurswesen. Auch Urteile, Gerichtsprozesse, Prüfungen spielen immer wieder eine Rolle.
Wie bei Kafka finde ich die versteckten Utopien, die immer wieder durchschimmern, besonders schön. Das Schicksal der Haltlosen mag schwierig und traurig sein, besonders in Selims Fall, aber es liegt auch Freiheit darin, wie Turgut gegen Ende selbst erlebt. Und auf eine mögliche Zukunft, in der alle Menschen freier leben werden, verweist der Autor immer wieder, auch im ganz konkreten Sinn: „Die Busfahrer werden das einfache Volk nicht mehr schikanieren. Sie werden immer genügend Kleingeld vorrätig haben. Dorfbewohner werden nicht mehr in ihren wärmsten Kleidern in der Sonne hockend vor den Ämtern warten müssen. Das Sultanat der Hausmeister wird sich dem Ende neigen. (…) Wer nicht in der Lage ist, Geld zu verdienen, wird nicht mehr als Schmarotzer bezeichnet. Die Voraussetzungen für Straßenhunde werden verbessert. (…)“
Viel gäbe es über Die Haltlosen noch zu sagen. Das Buch hätte es verdient, auch in anderen Ländern die Bedeutung zu erlangen, die es im literarischen Kanon der Türkei inzwischen hat. Dafür sei auch die Arbeit des Übersetzers Johannes Neuner hervorgehoben, durch den es uns nun auf Deutsch zugänglich ist. Die Haltlosen enthält viele andere Bücher und eine ganze Welt und gehört zu den Werken, die man immer wieder lesen und neu kennenlernen kann.
Miriam Mairgünther (Gastrezensentin der Buchkultur)
- Oğuz Atay: Die Haltlosen. Roman. Aus dem Türkischen von Johannes Neuner. Berlin: binooki Verlag 2016. 786 Seiten. 29,80 Euro
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