Eine Kette großer Vulkane überragt als majestätische Landmarke den Staat Guatemala. In diesem Gebirge entfaltete sich einst die Kultur der Maya, eine der Wiegen der Menschheitskultur. Beide, die Vulkane und die prähistorische Kultur der Maya, sind tragende Leitmotive in Rodrigo Rey Rosas Roman Die Gehörlosen, das im Septime Verlag erschienen ist. Im Fall der Vulkane stehen sie für bedrohlich-brodelnde Gefahren unter einer scheinbar ruhigen Oberfläche und im Fall der Maya für die Suche nach Befriedung und Stabilität, die ausgerechnet die unterdrückte und ausgebeutete Minderheit liefern soll.
Die äußere Handlung und ihre glatte Struktur
„Verdammt nochmal, tolle Vulkane«, sagte ein Gast, der sie durch die Fenster zum westlichen Balkon bewunderte. Die anderen lachten. »Verdammt nochmal, ja«, sagte eine Frau. »Wissen Sie, ich glaube, dass dieses Land in Wirklichkeit so ist, wie es ist, wegen dieser Vulkane. Sie kontrollieren uns.“
Alle Figuren in Die Gehörlosen bewegen sich auf einer glatten, aber brüchigen Oberfläche, darunter kocht und brodelt es gewaltig. Wenig ist so, wie es scheint, bei diesem Tanz auf den Vulkanen. Das Land ist aus den Fugen. Korruption, Vetternwirtschaft, Polizeiwillkür sind an der Tagesordnung. Die Drogenmafia und die alten Seilschaften aus den Jahren der Militärdiktatur funktionieren. Alle Bereiche des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens haben sie unter Kontrolle. Guatemala gibt sich modern und zivilisiert, ist aber im Inneren ein verrottetes und handlungsunfähiges Staatsgebilde kurz vor der Explosion.
Gleich zu Beginn verschwinden zwei Menschen. In den Bergen rund um den Aitlán-See fehlt nach einem Verkehrsunfall von einem gehörlosen Mayajungen plötzlich jede Spur. In Guatemala-Stadt verschwindet wenig später Carla, die Tochter des reichen Bankers Don Claudio. Alles sieht nach einer Entführung aus. Rätselhafte Lebenszeichen erreichen Don Claudio, ein Lösegeld wird gezahlt. Doch Carla bleibt verschwunden.
Cayetano, ihr junger Leibwächter, ein naiver Bursche vom Land und erst seit Kurzem in Carlas Diensten, ist überzeugt, dass der zwielichtige Anwalt Javier hinter dem mysteriösen Verschwinden steckt. Er spürt Carla und Javier schließlich am Aitlán-See auf. Dort hat die reiche Bankierstochter eine Spezialklinik gestiftet, die direkt in die Berge gebaut wurde. Nachts weinen und schreien dort Kinder und unter den Patienten taucht auch der verschwundene gehörlose Mayajunge wieder auf.
Cayetano setzt alles daran, aufzuklären, was hier vor sich geht, aber er scheitert an einer desinteressierten und indifferenten Polizei und Justiz. Das System funktioniert, es glättet alle aufgepeitschten Wogen und zieht alle Verwerfungen wieder glatt. Die Oberfläche hat ruhig dazuliegen und beruhigend zu schimmern, auch wenn es darunter mächtig brodelt.
Die innere Unruhe und ihre Zeichen
Rey Rosa schildert in seinem Politthriller eine Gesellschaft, die sich nichts sehnlicher wünscht als Beruhigung. Das größte Verbrechen ist, diese Ruhe zu stören. Dieses Verbrechens macht sich Cayetano schuldig, weil er nachbohrt und hinterfragt. Er sieht die Zeichen der Bedrohung, die alle anderen geflissentlich übersehen. Und diese Zeichen sind allgegenwärtig, selbst in der Natur.
„Kurz vor Einbruch der Dunkelheit begann plötzlich ein Regen aus winzig kleinen Stechmücken herabzufallen, und jetzt war der Boden mit den kleinen sterbenden oder toten Insekten bedeckt. Das Wasser des Sees verströmte einen ungesunden Geruch – ein immer gewöhnlicher werdendes Phänomen. Die Mikroalgen waren bis zur Mittagszeit aufgetaucht und mehrere Generationen von Kadavern wurden Minute um Minute an die Oberfläche geschwemmt.“
Was am Aitlán-See geschieht, kümmert niemanden wirklich. Die Mücken und Algen, die auf- und abtauchenden Kadaver, die verschwundenen Kinder besitzen keine Relevanz. Kontinuierlich sendet Rey Rosa Signale des Unbehagens. Die zahlreichen kurzen Zeitungsberichte von ermordeten Frauen und bestialischen Verstümmelungen, die Cayetano nebenbei überfliegt, sind nur die auffälligsten.
Wer sie richtig deutet, erhält eine eindeutige Botschaft: Das Land hat die Diktatur längst nicht bewältigt und als Resultat marschiert eine korrupte Nomenklatura Hand in Hand mit Verbrechersyndikaten über Leichen. Von Skrupeln weit und breit keine Spur. Selbst Cayetano macht sich schuldig und tötet. Solange etwas mehr dem Menschen dient, als es ihm schadet, ist es in Ordnung. Freiwillig verbrennt sich hier niemand die Finger.
Die brodelnde Unruhe und die drohende Explosion versteckt Rey Rosa hinter einer neutralen und journalistisch nüchtern-sachlichen Sprache. Die Dialoge sind knapp und klar. Doch der Text, übersetzt von Anna Gentz, räumt den Figuren kaum Freiraum ein, sich wirklich zu entfalten und emotional zu agieren. Die Absicht ist erkennbar: Der Leser soll ihnen nicht nahe kommen.
Rey Rosa verweigert dem Erzählten auch ein eindeutiges Zeitgerüst. Die verstrichene Zeit zwischen einzelnen Kapiteln ist nicht immer klar, es wird mitunter aus verschiedenen Blickwinkeln parallel erzählt oder eindimensional fokussiert. Es wird mehr versteckt als offengelegt. Der Erzähler streut Andeutungen und irritierende Details in den Text, er fordert den Leser heraus, die Psychologie der Figuren auf eigene Faust zu entwickeln. Vollständig gelüftet wird das Geheimnis, das Claras Verschwinden und die mysteriöse Klinik in den Bergen umgibt, am Ende nicht.
Bruch mit den klassischen Regeln des Thrillers
Letztlich wird auch der Unruhegeist Cayetano befriedet. Dazu bedient sich das korrupte System ausgerechnet der alten Mayakultur. In bestimmten Regionen Guatemalas existiert neben der staatlichen Justiz die Instanz der traditionellen Rechtsprechung der Mayaindianer. Cayetano wird in die Mühle eines Prozesses nach uralten Regeln gestoßen. Was die handlungsunfähige Staatsjustiz nicht vermochte, erledigt die alte Kultur. Das Maya-Justiz-Ritual klärt nicht wirklich auf, aber bringt am Ende alle zum Schweigen.
Die klassische Auflösung eines Thrillers sucht man bei Rey Rosa vergebens. Er lässt nach dem Tumult am Schluss nicht einfach Ruhe einkehren und stellt die Ordnung wieder her. Die Bedrohung bleibt.
Guatemala, das Land unterhalb des südwestlichen Zipfels Mexikos, haben in Europa die wenigsten auf dem Radar. Rodrigo Rey Rosa, der überwiegend in den USA lebt, rückt es mit seinem Roman in den Fokus.
Jochen Kienbaum (Gastrezensent von lustauflesen.de)
- Rodrigo Rey Rosa: Die Gehörlosen. Aus dem guatemaltekischen Spanisch übersetzt von Anna Gentz. Wien: Septime Verlag 2016. 288 Seiten. 22,90 Euro. Auch als E-Book
Der Beitrag findet sich auch in einer längeren Fassung auf „We read Indie“.