
Das schwerste Eisenbahnunglück in der deutschen Geschichte: Im Dezember 1939 prallen zwei Züge aufeinander, es gibt viele Tote – ungeklärt ist bis heute die Schuldfrage.
Es gibt drei Orte, die man sich merken muss (…) Diese drei Orte tauchen in allen Berichten über das Unglück auf. Jeder von ihnen spielt in der Geschichte eine Rolle. Das ist sicher. Während sonst fast nichts sicher ist.
Der Schriftsteller Gert Loschütz rekonstruiert in seinem neuesten Roman Besichtigung eines Unglücks, erschienen bei Schöffling & Co., den Hergang des Unglücks, er lässt einen Journalisten, der in Genthin (wie der Autor selbst) geboren wurde, Jahrzehnte später recherchieren. Was ist damals passiert, wer saß im Zug, welche Geschichten verbergen sich hinter den Zugreisenden, hinter den Toten und den Lebenden? Und gibt es vielleicht eine Spur zur eigenen Familiengeschichte? Im Zentrum der Recherche steht eine junge Frau, die überlebt hat, deren Bräutigam Jude war, die im Zug aber mit einem anderen, einem italienischen älteren Mann saß. Von ihr führt wiederum eine Spur zur Mutter des Erzählers. Nichts ist sicher, aber alles könnte so gewesen sein.
Nichts (möchte man meinen) geht verloren, und doch ist das meiste aus dem Gedächtnis verschwunden oder nur noch in den vergilbten, kaum jemals aufgeschlagenen Akten vorhanden.
Ein spannender und dramaturgisch gekonnt erzählter Roman, in dem es um Liebe und Verbrechen, Lüge und Krieg geht, um die Unmenschlichkeit des Naziregimes und die vergebliche Hoffnung auf die Kraft des Vergessens, überhaupt um die Frage nach dem Gedächtnis. Was bleibt von einem Leben und was bleibt von einem so furchtbaren Unglück? Und von einem Verrat, der vielleicht begangen werden musste.
Der erste Satz lautet „Nicht deine Zeit“. Die jüngere Geliebte des Erzählers sagt ihn unbedacht und er antwortet: „Nicht meine Zeit, aber an meine heranreichend …“ Er hat einen anderen Blick auf die Vergangenheit. Auch deswegen verfolgt der Mann die lange schon verwischten Spuren dieses Unglücks. Wer trug die Schuld, wo verlief die Grenzlinie zwischen Wahrheit und Lüge?
Nichts ist wahr und alles stimmt: Der Autor hat genau recherchiert (vor 20 Jahren hat er bereits ein Hörspiel über das Zugunglück geschrieben), die literarische Kraft überdeckt jedoch das Dokumentarische. Am Ende betont er: „Die Darstellung des Unglücks hält sich an die beim Gerichtsprozess ermittelten Fakten.“ Die Namen und Charaktere der handelnden Personen seien jedoch frei erfunden. Gert Loschütz verwebt Fiktion und Fakten auf eindrucksvolle Weise und macht so aus der realen Katastrophe großartige Literatur.
Dank an Manuela Reichart (adaptiert, Originalbeitrag auf rbb Kultur)
- Gert Loschütz: Besichtigung eines Unglücks. Frankfurt: Verlag Schöffling & Co. 2021. 335 Seiten, gebunden. 24 Euro. E-Book 18,99 Euro.