
Revolver Christi von Anna Albinus ist eine Kriminal- und Fantasygeschichte der besonderen Art, vor allem ist es ein herausragendes erzählerisches Debüt: Es geht um eine Schusswaffe und um Reliquienverehrung, um unerklärliche Todesfälle und den christlichen Glauben. Das Buch gehört zu den 30 ausgewählten Kandidaten der diesjährigen Hotlist und ist erschienen in der 2007 in Warschau und Berlin gegründeten edition.fotoTAPETA, die ihr Lesepublikum seit Beginn an charmant einlädt: „Lesen Sie Blau.“ Die blauen Bücher der Edition erzählen „Geschichte und Geschichten aus Europa und vornehmlich aus dem Osten unseres Kontinents“.
Ob er geschossen hat, wird man nicht mehr endgültig feststellen können. Die letzte Untersuchung der Waffe liegt zehn Jahre zurück und auch, wenn die Methoden sich seitdem verbessert haben, ist wenig mehr Erkenntnis über den Vorfall zu erwarten, weswegen man aus konservatorischen Gründen eine neuerliche Analyse ausgeschlossen hat. Die Wallfahrt zum Revolver Christi hat zehn Jahre nach der letzten öffentlichen Schau schon in den ersten drei Wochen alle Besucherrekorde gebrochen. Mehr als hunderttausend Pilger sind bereits zum Schrein in der Kathedrale gezogen, die Hotels der Stadt sind auf Wochen ausgebucht.
Mit dieser realistischen Beschreibung eines spektakulären touristischen Ereignisses beginnt Albinus‘ Novelle. Irritierend ist erst einmal nur die Waffe, die der Publikation den Titel gibt: Ein Revolver Christi? Das Schießpulver wurde bekanntlich in China erfunden und das Patent für den ersten Revolver1835 in Großbritannien angemeldet. Da kann also etwas nicht stimmen. Ansonsten beginnt alles ganz und gar zeitgemäß: Für die Inszenierung im Dom hat man einen Lichtkünstler engagiert. Es gibt ein strenges Fotografier- und Filmverbot, die Reliquie ist fein drapiert – und dann fällt am dreiundzwanzigsten Ausstellungstag ein Schuss. Die Zeit ist genau datiert: 5. Juli 2018 um 12.07 Uhr. Die Schützin ist rasch überwältigt: eine zweiunddreißigjährige Anwaltsfachgehilfin. Ein seriöser Ermittler tritt auf den Plan, die Diözese hofft, die Ausstellung offen halten zu können, denn die Tat führt zu gesteigertem Interesse. Das ist die Ausgangslage, die konkreter jedoch nicht werden wird, denn dem Genre entsprechend entwickelt sich die Geschichte geheimnisvoll. Deutlich wird allerdings bald, dass zwischen dem Revolver Christi, auf dem ein Fluch lastet, der Anwaltsfachgehilfin und dem sachlichen Kriminalbeamten ein Zusammenhang existiert.
Die zentrale Waffe hat sich jedenfalls verdoppelt, das Unglück, das mit ihr einhergeht, wiederholt sich im Lauf der Zeit immer wieder. Man liest gebannt und ist gespannt auf den Ausgang, der jedoch die Erwartung nach einer Auflösung des Plots und einer „Who-done-it“- Eindeutigkeit nicht erfüllt. Am Ende reibt man sich die Augen, lässt Bibelstellen Revue passieren und fragt sich, ob die christliche Sekte, um die es hier auch geht, tatsächlich existiert hat. Zeit- und Ortssprünge gelingen der 1986 geborenen Autorin, die katholische Theologie, Judaistik und Kunstgeschichte studiert hat, mühelos. Sie ist eine erstaunlich versierte Erzählerin. Alles ist möglich in dieser Geschichte, nichts löst sich am Ende auf. Das Geheimnis bleibt ebenso wie das Staunen über die literarische Fertigkeit und die sprachliche Sicherheit dieses schmalen Debüts.
Dank an Manuela Reichart (adaptiert; Originalbeitrag auf DLF Kultur)
- Anna Albinus: Revolver Christi. Novelle. Berlin: edition.fotoTAPETA 2021, 80 S., 15.- Euro