
Spätestens seit dem Brexit wissen wir, dass viele Engländer keine Europäer, sondern vor allem Engländer sein wollen. Traditionsbewusstsein und Individualismus prägen das Land, in dem Marion Löhndorf lange schon und offensichtlich gerne lebt. Die Kulturkorrespondentin der NZZ betont ihre Liebe zu Land und Leuten und geht in Geschüttelt, aber ungerührt der Frage nach, was denn nun typisch britisch oder zumindest was „englishness“ ist. Erschienen ist das Buch im bald vierzigjährigen renommierten zu Klampen! Verlag mit den zwei krähenden Hähnen als Logo.
Ist der Brexit eine Katastrophe oder eine Chance, was hat es mit der Liebe zum Tee und zum Garten auf sich und warum hat sich hier eine strikte Klassengesellschaft gehalten wie in keinem anderen europäischen Land. Die Autorin ist eine genaue und kenntnisreiche Beobachterin, sie erzählt von eigenen frühen Erfahrungen in London, von der Liebe zur Tradition, die allerdings nicht dazu geführt hat, die Ferien weiterhin im Land zu verbringen. Mallorca lockt schon lange mehr als Eastbourne oder Scarborough. Vom Untergang der altehrwürdigen Seebäder scheint allein Brighton ausgenommen zu sein, die Stadt erfährt einen enormen Zuzug und ist zu einem Hotspot der Künstlerszene geworden. London ist nah, hier sind die Wohnungen, die Lebenshaltungskosten preiswerter. Die Londoner Innenstadt ist für die meisten Menschen bekanntlich unbezahlbar, und nur in den Außenbezirken können Menschen mit geringerem Einkommen leben. Wahrscheinlich ist die Riesenmetropole trotzdem immer noch die „diverseste“ Stadt der Welt: schätzungsweise dreihundert verschiedene Sprachen werden hier gesprochen. Dass das nicht zu einer bunten Multikulti-Wohlfühlatmosphäre geführt hat, davon zeugen die islamistischen Terroranschläge der letzten Jahre. Marion Löhndorf ist eine kluge und unideologische Interpretin ihrer Wahlheimat, die sich auch mit schwierigen, mit kontroversen Themen kritisch auseinandersetzt, etwa mit der „Hypermoral der Political Correctness“ – und eben dem Islam als zweitgrößter Religion im Vereinigten Königreich.
Es geht aber auch um Sherlock Holmes, den „größten Londoner, der nie gelebt hat und nie sterben wird“, und um den wichtigsten Agenten ihrer Majestät James Bond, um die Ausbildung an Privatschulen, den Landadel und seine Kleidervorlieben, die Landschaftsparks und Gärten, um beliebte und wichtige Schauspieler, das Kino und das Theater und die – klassenübergreifenden – Pubs, die vom Aussterben bedroht sind – und natürlich um das Wetter: „Am liebsten mittelgrau.“
Nach der Lektüre dieses versierten und gut geschriebenen Buches versteht man die Briten vielleicht immer noch nicht, aber man weiß viel mehr über sie.
Dank an Manuela Reichart (adaptiert; Originalbeitrag auf rbb Kultur)
- Marion Löhndorf: Geschüttelt, aber ungerührt. Was England anders macht. Springe: zu Klampen Verlag! Verlag 2021. 232 Seiten. 22 Euro.