Anna Herzig im Gespräch mit Jovana Reisinger

Das bravouröse Können der Münchner Autorin und Filmemacherin Jovana Reisinger (geb. 1989), ihr Blick für das Wesentliche, Augen, denen nichts verborgen bleibt, und eine erzählerische Gelassenheit, von der man lernen darf, haben dem Literaturbetrieb die much needed Spitzenreiterinnen gebracht, die in diesem hoffnungsfrohen Frühjahr im Verbrecher Verlag erschienen sind. Ein Roman, der ab sofort und am besten schon vor fünf Jahren bei jedem Abitur (jeder Matura) besprochen, analysiert und interpretiert gehört. Und sowieso von allen gelesen.

Liebe Jovana, sind wir (Menschen) alle Spitzenreiter:Innen und ist das überhaupt ein erstrebenswerter Zustand?

„Spitzenreiter“ wird ja eigentlich als Begriff für Sammlungen verwendet, z. B. „Die Spitzenreiter der Charts“, oder Gewinner:innen (sportlicher) Disziplinen oder Anführer:innen irgendwelcher Rankings. Kommt natürlich jetzt drauf an, in welchem Wettbewerb man sich sieht. Gerade bin ich vielleicht die Spitzenreiterin im Sichsonnen auf dieser einen Terrasse, auf der ich gerade eben diese Frage beantworte, und finde das einen sehr erstrebenswerten Zustand.

Was und/oder wer beeinflusst dein dramaturgisches Schaffen, woher kommt die Liebe zum bewegten Bild (auf dem Screen und in deinem Kopf, später in Form eines Romans)?

Das Studium an der Filmhochschule hat meine Arbeits- und Denkprozesse verändert. Das szenische Denken werde ich wohl nicht mehr los und so auch den Blick auf Dramaturgie. Filme, aber auch Texte, die einer abseitigeren oder offenen Dramaturgie folgen, reizen mich wesentlich mehr als so eine Held:innenreise. Ich mag es, wenn „unwichtige“ Details auserzählt, wenn ganze Szenen, die weder für die Story, den Plot oder die Handlung relevant sind, inszeniert und die Zuschauenden aufs Glatteis geführt werden. Unberechenbare Erzähler:innen und die Haltung, eben nicht alles sofort verständlich offenlegen zu wollen oder zu müssen, werden manchmal als Ablehnung der klassischen Dramaturgie verstanden, dabei kann sie diese wunderbar ergänzen. 

Was Jovana Reisinger für mich besonders macht, ist das, was ich seit einiger Zeit im Literaturbetrieb vermisse: den Mut zu zeigen was ist, die Finesse zu sagen wie es ist und dabei mit erzählerischer Leichtigkeit und Feingefühl das existenzielle Trauma ganzer Frauengenerationen zu durchleuchten, ohne zu beschönigen.

Wie würdest du einem kleinen Mädchen im Grundschulalter erklären, was es bedeutet, Frau in diesem Jahrhundert zu sein?

Ich kann dem kleinen Mädchen nicht viel erklären. Frausein ist ein komplexes Konstrukt und ich werde mich hüten, eine allgemeine Aussage dazu zu treffen, ist es doch überall anders – und wer bin ich, dass ich über die Frauen in diesem Jahrhundert sprechen kann? Aber ich kann ihr sagen, dass ich wirklich fest daran glaube, dass es besser wird, gleichberechtigter, gerechter und fairer. Und wir alle unseren Teil dazu beitragen müssen, Scham- und Abwertungsmechanismen, internalisierten Sexismus, Rassismus und Misogynie zu überwinden. Es gibt noch viel zu tun, aber es wurde schon viel erreicht.

Würden die Spitzenreiterinnen als Spitzenreiter ebenso funktionieren?

Die Spitzenreiter, ein Episodenroman mit neun Männern in fünf Monaten wäre einen Versuch wert. Die Namen wären, blieben wir dem Prinzip der Spitzenreiterinnen treu, nicht so leicht zugänglich, aber lustig (z. B. Men’s Health, Playboy, BEEF! – Männer kochen anders, GQ, Penthouse, Coupé, Survival & Rescue usw.). Ich stell mir das super vor: BEEF!: „Uff, ich bin so busy heute.“ Playboy: „Ich auch!“ Men’s Health: „Wie wäre ein Drink zur Entspannung?“ BEEF!: „Schampus?“ Playboy: „Dass du jetzt erst fragst, hihihi.“ Men’s Health: „Auf uns, Männer!“

© Katharina Pia Schütz

Was erträgst du am ehesten im Leben?

Mein Leben ist gerade schön und es lässt sich so einiges ertragen. Wobei ertragen auch zu viel gesagt ist. Ich befand mich in den letzten Wochen extrem selten in schwierigen oder unangenehmen Situationen, die ich hinnehmen musste, ohne dabei die Beherrschung zu verlieren oder zusammenzubrechen. Es ist eher einfach und hübsch. 

Und was überhaupt nicht?

Was mich stilsicher immer in Regung bringt, sind Übergriffe, Kommentare usw. gegen meine Freund:innen und mich. Wir gehen zu dritt die Straße entlang, stellt sich ein Typ vor uns und sagt: „Hilfe, ich bin verliebt! Küsst mich!“ und geht nicht mehr aus dem Weg. Lol, da hat er sich aber die Falschen ausgesucht.

Was ist deiner Meinung nach das kritischste Problem in der zwischenmenschlichen Interaktion?

Das weiß ich nicht. Vielleicht die Abwertung des Gegenübers, diese Intoleranz, dieses unbedingte Versuchen, sich als überlegen darzustellen. Bräuchte es gar nicht. Wir könnten doch schön nebeneinander existieren.

An was arbeitest du als Nächstes, worauf dürfen wir uns freuen?

Gerade arbeite ich an einem Hörspiel und zwei Drehbüchern und fange langsam mit der Recherche für meinen Nachfolger-Roman an. Im Hörspiel geht es um eine Hochhaus-Gemeinschaft, in den Drehbüchern um den Alpenkitsch, im Roman beschäftige ich mich (vorerst) mit der Lust und der Liebe. Alles ganz aufregende Themen, finde ich. 

Mit dem Roman Spitzenreiterinnen bekommt nicht nur die spannende Künstlerin Jovana Reisinger die ihr zustehende Aufmerksamkeit, sondern auch der Verbrecher Verlag. Bitte mehr. Wirklich, okay? Mehr, mehr, mehr. Ich sattle jetzt mein Pferd, halte mir den Bauch und hoffe, dass der kleine Spitzenreiter unter meinem Herzen sich mindestens genauso inspiriert fühlt wie ich.

Danke Anna Herzig und Jovana Reisinger für das fidele Gespräch und alles Gute!

  • Jovana Reisinger: Spitzenreiterinnen. Berlin: Verbrecher Verlag 2021. 264 Seiten, Hardcover. 22 Euro.

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