
Der kolumbianische Autor Tomás González gilt immer noch als Geheimtipp der lateinamerikanischen Literatur, mit dem Erzählungsband Die stachelige Schönheit der Welt voller dunkel-heller Lebensgeschichten, erschienen in deutscher Übersetzung in der Züricher edition 8, sollte sich das endlich ändern.
Der Mann ist dement, aber immer gut angezogen, seine beiden gebügelten Taschentücher hat er stets bei sich. Er erinnert sich noch an die Vergangenheit, aber nicht an die Gegenwart. Einmal im Jahr holt er den Koffer vom Schrank und will an die Küste zum Geburtstag seiner Mutter fahren. Dass die lange schon tot ist, dass auch seine liebenswürdige Schwester gestorben ist, das weiß er nicht mehr. Einmal im Jahr inszenieren seine Frau und seine erwachsenen Kinder daher für ihn eine „Reise an die Küste“. Es werden Zimmer ausgeräumt und Stühle aufgestellt: Das wird der Eisenbahnwagen. Der Schreibtisch wird zum Fahrkartenschalter. Die Tochter wird erst zur Fahrkartenverkäuferin, später wird sie auf dem imaginierten Bahnsteig Köstlichkeiten verkaufen, der Sohn spielt den Schaffner. Wie dessen Uniform einst aussah, ist nicht bekannt, man muss improvisieren. Der Vater stutzt zwar, weil sie so gar nicht den Uniformen seiner Jugend entspricht, aber vielleicht haben sie sich ja verändert.
Das Ehepaar jedenfalls reist, der Mann genießt die Fahrt, er kennt alle Stationen, spricht mit Mitreisenden, die nur er sieht, aber auch für die Frau verschwimmen Realität und Fantasie. Sie weiß vor allem, dass sie am Reiseziel den Kampf gegen die Schwiegermutter gewinnen muss, die den Sohn bei sich behalten will. Und auch ein Jugendfreund will ihn offenbar vom Leben in den Tod hinüberziehen. Die Frau kämpft, denn sie liebt ihren dementen Mann immer noch, und kennt noch viele Dinge, an denen er sich erfreut. Er darf noch nicht sterben.
In dieser wunderbaren Liebesgeschichte gehen Zeit und Raum ineinander über, die Erinnerung an den Beginn des gemeinsamen Lebens leuchtet immer wieder auf, all die Reisen, die real zur Schwiegermutter stattgefunden haben, lassen diese fiktive Eisenbahnfahrt, die so perfekt inszeniert ist, zur wirklichen Erfahrung der Heldin werden. Keine traurige Demenzbegegnung ist das, stattdessen eine vor Lebendigkeit strotzende Hommage an einen alten, verwirrten Mann und seine an der Liebe zu ihm festhaltenden Frau.
Dreizehn Erzählungen aus mehr als einem Vierteljahrhundert hat der Übersetzer und Herausgeber Peter Schultze-Kraft, der sich dankenswerterweise seit Jahrzehnten für González einsetzt, in diesem Band versammelt. Auf dem Buchumschlag ist eine kluge Beurteilung des Schweizer Schriftstellers Peter Stamm abgedruckt: „González schreibt einen sehr trockenen, aber zugleich unglaublich atmosphärischen Stil. Die Geschichten sind dunkel, aber es ist, als leuchteten sie von innen.“
Da verkommt ein Künstler, der einen Todesfall nicht verwinden kann, zu einem saufenden Clochard, ein schöner junger Mann wird das Opfer seiner Rauchgiftsucht und lebt am Ende als stinkendes Wrack auf der Straße, eine einstmals besonders hübsche Tante liegt im Krankenhaus, eine Frau mit unangenehmem Charakter wird nach dem Erwachen aus dem Koma nur ganz kurz zu einem freundlichen Menschen. Egal, wie tief seine literarischen Heldinnen und Helden sinken, wie wenig Attraktivität ihnen bleibt, wie düster ihr Leben aussieht, der Autor lässt ihnen eine große, strahlende Würde. Und uns teilhaben an Lebensgeschichten, angesiedelt zwischen Leidenschaft und Verderben, Schmerz und Hoffnung.
Dank an Manuela Reichart (adaptiert; Originalbeitrag auf DLF Kultur, Foto von capri23auto)
- Tomás González: Die stachelige Schönheit der Welt. Erzählungen. Aus dem Spanischen von Peter Schultze-Kraft u.a. Zürich: edition 8, 2021. 240 Seiten, gebunden. 21,20 Euro. Auch als E-Book.