Wense von Christian Schulteisz ist ein ungewöhnlicher Debütroman, in dessen Zentrum ein großartiger „Universaldilettant“ steht: der Schriftsteller Hans Jürgen von der Wense. Das Buch ist in diesem Frühjahr im Berenberg Verlag erschienen, dem Verlag mit dem muskelbepackten Gewichtheber als Logo. Genau solch eine Kraft braucht die Buchbranche jetzt und bestimmt auch solche Helden wie Wense.
Nach Wenses Tod 1966 hat man angeblich 60.000 Nachlassseiten, 40 Tagebücher, 258 Messtischblätter, 40 Kompositionen, 3000 Fotos und tausende Briefe gefunden. Bekannt wurde er erst posthum, Zeit seines Lebens lag ihm offenbar nicht viel an Veröffentlichungen, an Zuschreibungen oder Auszeichnungen. Der 1894 geborene Schriftsteller war ein Hochbegabter. Sein Studium hatte er abgebrochen, sich
stattdessen selber Lateinisch und Chinesisch, Sanskrit und Arabisch, Dänisch und Walisisch beigebracht. Er übersetzte und dichtete, komponierte und schrieb Aphorismen, beschäftigte sich mit Astrologie und Landschaftsfotografie, vor allem aber wanderte er. Wense soll mehr als 40.000 Kilometer zurückgelegt haben.
Der 1985 geborene Autor entwirft in seinem Erstling Wenses Zeit während des Zweiten Weltkrieges: 1943 muss er in Göttingen Kriegsersatzdienst leisten – als Abteilungsleiter in einer Radiosondenfabrik des
Siemenskonzerns. Erzählt wird, wie die Prüfarbeit dort vonstattengeht, wie Wense Freundschaft schließt mit einem französischen Physiker, der hier zur Arbeit gezwungen wird, wie er ihn heimlich auch begehrt – und froh darüber ist, dass seine Mutter ihn nie nach erotischen Vorlieben gefragt hat. Es geht überhaupt um das enge Verhältnis zur Mutter, um Hunger und Krankheit, die Schinderei bei der Stadtwacht.
Vor allem aber steht der ekstatische Wanderer im Zentrum. Christian Schulteisz versetzt sich in seine Figur, in jenen Wense, der angelehnt ist an die historische Person des Dichters, aber nicht autobiografisch verbürgt ist. Er schreibt eindrucksvoll von dessen Verbindung zur Natur, vom entschiedenen Staunen und Wahrnehmen. Ein Mann ohne Ziel und Verpflichtung:
Manchmal zieht einer los, ohne zu wissen wohin und ohne darauf zu achten, stromert und schlendert, streift und schweift herum und umher, bis er nicht mehr weiß, wo er ist, und dann genauso weiter, in genau diesem Zustand, einfach irgendwo unterwegs nirgendwohin.
Dass und wie dieser Held, der nicht urteilt und nicht rechtet, sich in der Gesellschaft bewegt, wie er nur nebenbei überzeugte Parteigenossen von Mitläufern unterscheidet, wie er ein kluger Sonderling bleibt inmitten des Nazi-Wahnsinns – davon wird hier in einer empfindsam-genauen Sprache erzählt. Der Autor biedert sich dabei seinem Protagonisten nicht an, er fordert keine Sympathie von uns, stattdessen sollen wir staunen über einen Mann, der sich leidenschaftlich in Gedanken und in Büchern verliert und sich in der Kriegszeit anpasst, damit er unangepasst bleiben kann.
Dank an Manuela Reichart
(adaptiert, Originalbeitrag auf rbb Kultur)
- Christian Schulteisz: Wense. Berlin: Berenberg Verlag 2020. 128 Seiten, Halbleinen. 22 Euro. Auch als E-Book.