Albertine Sarrazin: Querwege (INK PRESS)

Albertine Sarrazin, streitbare Autorin, Diebin, Verweigerin der geraden Wege, ist uns schon bekannt aus dem Roman Der Ausbruch (siehe Hotlistblog). In der Schweizer INK PRESS ist im Herbst 2019 nun ihr dritter Roman Querwege erschienen, neu übersetzt aus dem Französischen von Claudia Steinitz.

Sarrazin, die mit nur 29 Jahren verstarb, hat einen großen Teil ihrer Jugend und ihres Erwachsenenlebens in Gefangenschaft – in Heimen und Gefängnissen – verbracht. Währenddessen hat sie immer geschrieben, nicht nur Tagebücher und Texte, die später in ihre Romane einfließen sollten, sondern auch zahllose Briefe, eigene und im Auftrag ihrer Mit-Insassinnen. Sehr berührend beschreibt sie in Der Ausbruch, wie das Schreiben für sie eine Grenzüberschreitung, ein Stück Freiheit bedeutet, selbst wenn es nur ein Brief an den Anwalt ist. Auch andere Möglichkeiten der temporären Freiheit gibt es, die wie nebenher genutzt werden können, wenn nichts anderes zur Verfügung steht: „In dieser unauslöschlichen Sekunde schlafe ich, Reisende, die die Grenze in ihrem Strohsack-Abteil überquert.“
In Querwege beschreibt die Autorin die Zeit nach ihrer Entlassung, die immer noch von Einschränkungen bestimmt ist: Ihr Mann sitzt noch im Gefängnis, sie selbst wird überwacht und darf sich in vielen Gegenden Frankreichs nicht aufhalten. Aufrecht und trotzig stellt sie sich dem neuen Leben entgegen, oftmals mit Humor und mit ihrer ureigenen Beobachtungsgabe, bei der sie selbst im Mittelpunkt steht. Sie findet überall etwas, das sich zu beschreiben lohnt, wahrscheinlich weil sie früh gelernt hat zu rebellieren, sich nicht von anderen Menschen und Mauern niederdrücken zu lassen: „Ich bin ein lachender, hungriger Spatz in den Regenrinnen der traurigen Dürftigkeit, ich suche darin das Lustige und Nährreiche.“ Auch ihren Sinn für Poesie und ihre außergewöhnliche Sprachverwendung, die immer Spiel und eine gewisse Leichtigkeit beinhaltet, verliert sie nicht. Dennoch fließen viel Verzweiflung und Schmerz in ihre Texte ein, und oft lässt sich die Einsamkeit nur mit Alkohol ertragen. Schwer wiegen auch die Enttäuschung über Freunde, die sie im Stich gelassen und betrogen haben, und der Schock über die Worte ihres Adoptivvaters vor Gericht. Diese Szene liegt Jahre zurück, steht aber am Anfang des Buches und beschreibt sehr berührend das Gefühl der 18-Jährigen, nun endgültig zurückgewiesen und allein zu sein.
Sobald Albertine Sarrazin wieder frei ist, setzt sie alles daran, ihr Manuskript bei einem Verlag unterzubringen und endlich eine richtige Schriftstellerin zu werden. Doch trotz dieses innigen Wunsches ist sie auch hier nicht bereit, sich zu unterwerfen, etwa wenn es um einen möglichen Verkauf ihrer Person geht: „Die Autorin gibt es nicht, stellen Sie auch Nachforschungen über die Vergangenheit Ihrer Bic-Mine an? Ich bin der Bic, nichts als eine winzige Bic-Mine mit Krallen und Zähnen!“ Gerade heute, wo die Inszenierung der Autorinnen und Autoren auf dem Literaturmarkt weit verbreitet ist, ist diese Haltung relevant. Trotzdem erscheint es bei Sarrazin unumgänglich, auch über ihre Biografie zu sprechen, wenn man ihre Bücher bespricht, vielleicht weil die Umstände, unter denen diese entstanden sind, so außergewöhnlich waren. Das radikale autobiografische Schreiben, die schonungslose Selbstbetrachtung und gleichzeitig die Fähigkeit, dies alles in eine so lebendige, einzigartige und poetische Sprache zu fassen, sind ihre besonderen Stärken. Auf ein Hinterfragen der Mechanismen, denen sie ausgesetzt war, kommt sie in ihren Texten nicht, wie auch die Übersetzerin Claudia Steinitz im Interview ausführt. Sie bleibt ganz bei sich und kämpft ihren Kampf für sich allein, und vielleicht noch für ein oder zwei Menschen, die ihr etwas bedeuten.

Dank an Miriam Mairgünther

 

  • Albertine Sarrazin: Querwege. Roman. Aus dem Französischen neu übersetzt von Claudia Steinitz. Broschur, 228 Seiten. 20 Euro

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