Mit der Neuübersetzung der Berglöwin von Jean Stafford (1915–1979) im Zürcher Dörlemann Verlag gibt es eine lohnende Wiederentdeckung zu machen. Stafford war eine viel gelesene, viel besprochene und vielfach ausgezeichnete Autorin (u. a. mit dem Pulitzer Preis). Bei uns ist die aus ärmlichen Verhältnissen stammende US-amerikanische Schriftstellerin nahezu unbekannt. Sie hat drei Romane und zahlreiche Erzählungen geschrieben, die in Zeitschriften wie dem New Yorker, der Vogue oder Harper’s erschienen.
Im Zentrum der Berglöwin steht ein Geschwisterpaar. Der Junge und das Mädchen sind anders als ihre hübschen älteren Schwestern, als ihre Mutter, die auf Höflichkeit und Anstandsregeln Wert legt. Sie ist lange schon Witwe, keines ihrer vier Kinder kann sich an den Vater erinnern, und niemand kann sich einen Reim auf die symbiotisch aneinander hängenden Jüngsten machen.
Es gab Zeiten, da fürchtete Mrs. Fawcett um den Verstand ihrer beiden jüngeren Kinder: Ihr Wesen zeigte so kalte Entschlossenheit, dass sie bei dem Gedanken zitterte, was sie tun mochten, wenn man ihnen in einer Sache entgegentrat, die ihnen sehr am Herzen lag. Woher mochte dieser Charakterzug stammen, sicher nicht von ihrer Seite der Familie, und auch wenn Mr. Fawcett keineswegs ein Weichling gewesen war, so war er doch sehr sanftmütig und hatte auch immer die Gegenseite eines Arguments sehen können.
Jean Stafford erzählt von einer eher traurigen Zeit zweier Kinder zwischen Kalifornien, wo sie mit der Mutter und den Schwestern leben, und Colorado, wo sie auf der Farm ihres Onkels viel Zeit verbringen. Wie dann aus einem unverbrüchlichen Geschwisterpaar zwei Menschen werden, die sich nicht mehr mögen, deren gemeinsame Kindheit plötzlich nichts mehr zählt, das steht im Mittelpunkt der Geschichte, die nicht wertet, sich nicht auf die eine oder die andere Seite schlägt.
Bei Molly entsteht – verursacht durch den Einbruch der Pubertät des Jungen und einen frevelhaften Satz – im zweiten Teil des Romans jedenfalls ein unbändiger Hass auf den Bruder.
Sie gelobte mehrmals und hob dabei den rechten Arm aus dem Wasser, Ralph Facett für den Rest ihres Lebens zu hassen. Sie war sich noch nicht sicher, wie sie ihm zeigen würde, dass sie seine Feindin auf ewig war, aber es eilte ja nicht. Vorerst konnte sie einfach hier in der Wanne liegen, sicher hinter einer verschlossenen Tür und über das nachdenken, was er getan hatte.
Die Autorin entwirft psychologisch genau und mit einer ungewöhnlichen literarischen Mischung aus Distanz und Nähe das Porträt eines seltsamen Mädchens, das einem nicht besonders ans Herz wächst. Weil es wirklich eigenartig und selbstbezogen ist, sich nicht um andere schert und eine endlose „Liste der Unverzeihlichen“ führt, auf der fast alle ihr nahestehenden Menschen verzeichnet sind. Schließlich eben auch ihr Bruder.
Das Ende dieses nicht zuletzt auch wegen seiner wunderbaren Naturbeschreibungen faszinierenden Romans ist dann so überraschend und gewalttätig, dass man sich die Augen reibt. Der letzte Satz gehört hier der uralten farbigen Köchin, die weder für den Jungen noch für das Mädchen je Sympathien aufgebracht hat, die von den Kindern nicht als gleichwertiger Mensch betrachtet wurde. Sie benutzt – im Nachwort wird das ausführlich erklärt – jene Zuschreibung, mit der die schwarzen Sklaven des Südens die unteren weißen Schichten bezeichnet hatten: „Das arme, kleine bisschen weißer Abschaum.“
Dank an Manuela Reichart
(adaptiert und gekürzt, Originalbeitrag auf wdr Kultur)
- Jean Stafford: Die Berglöwin. Aus dem Amerikanischen von Adelheid und Jürgen Dormagen. Zürich: Dörlemann Verlag 2020. 352 Seiten, gebunden. 25 Euro. E-Book 16,99 Euro.
Hinweis auf WDR 3 Podcast Buchkritik