Jonathan Coe: Middle England (Folio Verlag)

Merrie England, Deep England, Old England, so die Überschriften der drei Teile des Romans Middle England von Jonathan Coe – wofür stehen sie? Genauer: Wohin haben sie sich während der Zeit des Brexit entwickelt? Was ist „Englishness“ – findet man sie in Tolkiens Auenland, in den Canterbury Tales oder in den Gemälden Constables?
Coes Roman, erschienen im Folio Verlag, ist nicht der erste, der sich mit dem Brexit beschäftigt, aber er stellt eine der tiefgreifendsten Analysen dar, mehrsträngig erzählt und vor allem nach den Wurzeln des Problems Ausschau haltend. Der Roman hat komische Stellen, ist aber keine Satire, er kleidet sich in das Gewand des Familienromans.

Er beginnt im April 2010 mit dem Satz: „Die Trauerfeier war vorüber.“ Sheila, Ehefrau Colins, Mutter von Lois und Benjamin, ist gestorben. Die Familie kommt zusammen, die LeserInnen lernen sofort den missgestimmten alten Mann kennen, der nun Witwer ist und von seinen Kindern versorgt werden muss.
Lois ist Mitte fünfzig, verheiratet, kommt aber berufsbedingt nur dann und wann übers Wochenende nach Hause. Benjamin hingegen hat viel Zeit: Er lebt von den Erlösen einer Londoner Zweizimmerwohnung (!), davon konnte er sich in der Gegend von Birmingham eine große alte Mühle kaufen und muss bei bescheidener Lebensweise auch kein Geld mehr verdienen. Seit fast dreißig Jahren schreibt er an einem Roman, der, auf einer unglücklichen Liebe fußend, riesige Ausmaße angenommen hat.
Eine weitere wichtige Person ist Sophie, Lois‘ Tochter, die gerade ihren Doktor in Kunstgeschichte gemacht hat. Sie steht für die gut ausgebildeten, jungen Menschen, die von einer festen Anstellung nur träumen können und sich stattdessen mit Zeitverträgen und Projekten begnügen müssen.

Um diese drei Figuren herum entwirft der Autor seine Geschichte mit vielen Nebenpersonen, die jeweils für eine Generation, einen Lebensstil oder auch eine politische Haltung stehen.
So lernt Sophie bei einem Fahrsicherheitstraining Ian kennen. Ein netter und unkomplizierter Mensch, hilfsbereit und gut aussehend. Er steht für die gemäßigte Stimme des Volkes, seine Mutter Helena für eine wesentlich dezidiertere, sprich aggressivere. Diese Stimme, geäußert auf dem Golfplatz oder in der eigenen Wohnung, durchzieht den ganzen Roman, sie ist so etwas wie das Hintergrundrauschen einer Nation.

Ein Beispiel:

„Schließlich“, Mr. Hu klang jetzt vorsichtig, „leben Sie in einem freien und demokratischen Land.“ „Ich fürchte, da irren Sie sich“, gab Helena zurück. „Das heutige England ist kein freies Land. Wir leben unter einer Tyrannei. (…) Ein Tyrann muss keine Person sein. Es kann auch eine Gesinnung sein.“
„Sie leben unter der Tyrannei einer Gesinnung?“ (…)
„Genau.“ (…)
„Die politische Korrektheit natürlich.“

Diese politische Korrektheit wird immer wieder von Brexit-Befürwortern ins Feld geführt, wenn betont werden soll, dass im Grunde all die Linken, die Gutmenschen und Vertreter einer modernen Politik, schuld an der Misere des Landes sind.
Gegen diese Einstellung schreibt Douglas, ein Schulfreund Benjamins, seit Jahrzehnten an. Er ist einer der renommiertesten Journalisten des Landes, einer, der tiefe Einblicke hat in die Politik und ihre Macher. Er steckt in einer Zwickmühle: Er kommt aus einem Arbeiterhaushalt, steht links – und lebt in einem riesigen Haus in Chelsea, weit weg von den Problemen der Menschen. Seine Frau entstammt einer der reichsten Familien des Landes, seine Tochter Corrie entwickelt sich in der Pubertät zu einer rebellischen jungen Frau, die nicht bereit ist, auch nur einen Zentimeter von ihren Grundsätzen abzurücken. Dass er alles verraten habe, wofür er einmal stand, ist der Vorwurf an ihren Vater.

Corrie wiederum wird zu Sophies Anklägerin, der „transphobe“ Äußerungen vorgeworfen werden. Sophie kann nicht auf die Unterstützung von Kollegen oder Vorgesetzten zählen – zu stark ist der Druck der sozialen Medien. Sophie wird suspendiert, sie kann ihren Job als Dozentin für Kunstgeschichte monatelang nicht mehr ausüben. Dabei ist gerade Sophie ein Musterbeispiel an Ausgewogenheit und Empathie – sie ist die personifizierte political correctness. Eine kleine unbedachte Bemerkung hatte gereicht, um den Shitstorm auszulösen – Gelegenheit für den Autor, über die Rolle der alten und neuen Medien nachzudenken.

Jonathan Coe versteht es fabelhaft, über diverse Nebenfiguren viele Themenfelder zur Sprache zu bringen. Er spinnt einen Faden um den anderen, den er in die komplexe Geschichte webt, auf diese Art entsteht das vielfarbige Bild.
Jede private Entwicklung hat in diesem Roman ihre gesellschaftliche Komponente, die zeigt, dass England zwar eine alte Demokratie ist, aber nie aufgehört hat, ein Klassensystem zu sein. Eines, das „noch immer von einer Bande von Eliteschülern regiert wird, die sich alle in Oxford die Zähne gewetzt haben“, so Benjamin.

Patriotismus, Nationalismus, der Niedergang der Industrie und damit ganzer Städte, Verschwörungstheorien, die Kluft zwischen arm und reich, das bizarre Verhalten mancher Einwanderer, die gegen Einwanderung sind, der Hass gegen Andersdenkende, das Gefühl, von „Kräften, die von der eigenen Macht ganz berauscht und außerdem fest entschlossen waren, diese Macht noch dadurch zu stärken, dass sie den einfachen Bürgern das Leben schwer machten“ – und noch viel mehr steckt in diesem Roman, der eines ganz klar herausarbeitet: Der Brexit hat wenig mit Vernunft und Politik, aber sehr viel mit Gefühl zu tun.

Seine Stärke ist, dass Jonathan Coe zwischen den einzelnen Figuren und damit auch zwischen den Themen oder Schwerpunkten hin und her wechselt. Es entsteht keine Sekunde der Langeweile, im Gegenteil, der Roman entwickelt einen Sog, denn die Personen und ihr Schicksal sind sehr lebendig beschrieben, man ahnt vieles, aber es ist nie klar, was kommen wird, mehr als einmal gibt es eine unvorhergesehene Wendung.
Die Freude am Lesen entsteht nicht zuletzt durch die sehr gelungene Übersetzung von Cathrine Hornung, die die unterschiedlichen Tonlagen der Figuren, die Wortspiele des Autors und die Atmosphäre der „Englishness“ trefflich ins Deutsche übertragen hat.

Danke an Petra Lohrmann
(gekürzt und adaptiert, Originalbeitrag)

 

  • Jonathan Coe: Middle England. Aus dem Englischen von Cathrine Hornung und Dieter Fuchs. Bozen/Wien: Folio Verlag 2020. 480 Seiten, gebunden. 25 Euro.

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