Michael Lichtwarck-Aschoff: Der Sohn des Sauschneiders oder ob der Mensch verbesserlich ist (Verlag Klöpfer, Narr)

In der Tübinger Verlagswelt ist nach zwei Jahren Aufruhr wieder Ruhe eingekehrt. Auf Auflösung folgt Neugründung. Ein bisschen nur hat sich am Verlagsnamen etwas geändert, am Programm, am „starken Stoff“, wird festgehalten. „Die Klöpfer, Narr GmbH steht für den Fortgang des literarischen Programms des Klöpfer & Meyer Verlages, für das Hubert Klöpfer mit seinen ‚Büchern fürs Denken und Lesen ohne Geländer‘ seit 27 Jahren steht.“ Und so stammt unser hochinteressanter Fund aus dem diesjährigen Herbstprogramm unter neuen Vorzeichen und sucht echte „Überzeugungsleser“./red.

Franz Megusar, der Sohn des Sauschneiders, geboren Ende des 19. Jahrhunderts in der Krain, einstiges österreichisches Kronland, heute zu Slowenien gehörend, hat einen Traum: Er möchte das hornlose Rind züchten. Er möchte nicht die Hörner abschneiden, die Rinder sollen ohne diese Zier auf die Welt kommen, denn wozu brauchen sie die eigentlich?
Wie kommt ein junger Mensch auf eine solche Idee? Franz war vierzehn, seine Schwester Jozefa drei, als das Unglück geschah: Eine Kuh wurde zum Stier geführt, Jozefa war aus unerklärlichen Gründen im Stall, plötzlich „hatte der Stier sein Horn in Jozefas Oberschenkel und schien das Mädchen aufspießen oder zertrampeln zu wollen oder beides“. Der ungeschickte Franz wächst für einen Moment über sich hinaus und rettet die Schwester. Sie überlebt, bleibt aber schief.

Der erste Teil des Buches spielt in Steinbüchl, einem Dorf in einer sehr kargen Gegend. Hier gedeiht nichts außer Armut. Durch einen Zufall kommt Franz der Verwirklichung seines Traumes einen Schritt näher: Er lernt Paul Kammerer kennen, der auf den Karstfeldern nach den sogenannten Drachenkindern sucht. Vermutlich handelt es sich um Grottenolme, Wesen mit zwei Heimaten, sie können im Wasser und an Land leben, sind blind, haben jedoch Anlagen für Augen.
Paul Kammerer (1880­–1926) ist der berühmteste Biologe seiner Zeit. Er holt Franz kurz vor dem Ersten Weltkrieg nach Wien ans Vivarium („Biologische Versuchsanstalt“ 1903–1941). Mit seiner Arbeit dort kann Franz seine Familie unterstützen und vielleicht etwas über die Züchtung des hornlosen Rindes lernen.
Kammerer möchte beweisen, dass sich erlernte Eigenschaften vererben lassen, sprich, dass Tiere verbessert werden können. Vielleicht sogar Menschen? Eine gewagte These, gibt es doch auch Stimmen in der Wissenschaft, die davon ausgehen, dass alles immer gleichbleibt. Kammerers Gegenspieler, der Paläontologe Othenio Abel (1875–1946), vertritt diese Ansicht und setzt Kammerer und damit auch Franz mächtig zu.

Im zweiten Teil des Romans spitzt sich der Streit zwischen Kammerer und Abel zu. Dabei geht es nicht nur um Wissenschaft, also objektiv beweisbare Erkenntnisse, sondern auch um Politik. Abel ist ein Vertreter der Rassentheorie, der Kammerer auch deshalb diffamiert, weil dieser Halbjude ist und Vorträge für das Rote Wien hält und den Frieden befördern möchte. Abel hingegen wird von den „ausrasierten Hälsen“ bejubelt, die Faschisten erlangen an der Universität wie an der Hofburg immer mehr Macht. Die Kriegstreiber verstehen ihr Handwerk.

Bei der Züchtung des hornlosen Rindes geht es jedoch im Kern um ein Friedensprojekt:

Man müsste das Rind vom Frieden überzeugen, du hast völlig Recht, Franz, das wäre es. Es muss merken, dass der Frieden losgegangen ist und die Hornlosigkeit. Diese Überzeugung wird es an die Kinder vererben. Die nächste Generation wird schon kleinere Hörner haben, oder nur noch eines. (…) Ich weiß nicht, wie viele Generationen wir brauchen werden, um zu beweisen, dass sich Überzeugungen, also sagen wir: die Überzeugung von der Friedlichkeit, vererben. Dass einem das ins Blut geht. (…)
Wenn es uns beim Stier glückt, dann muss es auch bei anderen Tieren gehen. Und warum sollte es dann nicht auch beim kompliziertesten, verschlagensten und geheimnisvollsten Tier funktionieren beim Menschen? Warum sollte es dann nicht möglich sein, dem Menschen auf Dauer einzupflanzen, dass es gescheiter ist, Frieden zu halten?
Eine glückliche Zukunft auf planmäßiger, wissenschaftlicher Grundlage. Das alles steckt in dem, was du so bescheiden Hornlosigkeit nennst.

Da es allerdings auch bei Kammerer nicht absolut ehrlich und objektiv zugeht, gerät Franz schließlich in eine arge Zwickmühle. Muss er jetzt die Wahrheit opfern, um die Wahrheit der Zukunft nicht zu gefährden?

Erzählt wird der Roman von einem Ich-Erzähler, der die Fakten aus Franz’ Leben zusammentragen soll für einen Nachruf (Franz starb den Heldentod auf dem Schlachtfeld.) Dieser Erzähler ist ein Kollege und Freund von Franz, Vater von Jozefas Tochter und – er sagt es nicht gerne – er war Abels Spion im Vivarium.
Dieser Betrachter von außen, der mittendrin steckt, gibt dem Autor Michael Lichtwarck-Aschoff Raum, seine Geschichte auszufabulieren. Denn von trockener Wissenschaft kann keine Rede sein. Die Debatte um verschiedene Ansätze und Richtungen in der Forschung wird via Kammerer und Abel ausgetragen. Die Not der Menschen, ihre Hoffnungen und ihre Suche nach Antworten, ihre Geradlinigkeit oder ihre Launenhaftigkeit, der Fortschritt, der nie allen nützt, all diese Themen werden anhand der Familie Megusar erzählt.

Lichtwarck-Aschoff verknüpft gekonnt Wissenschaft, Zeitgeschichte, die Rolle der geistigen Haltung des Forschers und des Betrachters mit all den persönlichen Vorlieben, Ängsten, Erlebnissen, der Suche nach Wahrheit, genauso wie der nach Ruhm. Er schreibt hintergründig, mit viel Sprachwitz und Fantasie. Mit Franz Megusar hat er eine Figur geschaffen, die zwei Heimaten hat und einen Traum, die überall dazwischengerät und doch nur eines wollte: Friedfertigkeit.

Petra Lohrmann

 

  • Michael Lichtwarck-Aschoff: Der Sohn des Sauschneiders oder ob der Mensch verbesserlich ist. Tübingen: Verlag Klöpfer, Narr 2019. 358 Seiten, gebunden. 24 Euro

 

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