Immer geht es darum, die richtigen Worte zu finden: in der Liebe, im Krieg, auf der Welt. Dann braucht es die, die zuhören können und verstehen. Fulminant und dunkel erzählt Jakuta Alikavazovic in ihrem vierten Roman Das Fortschreiten der Nacht, der 2017 auf Französisch erschienen ist, von Sprache (Poesie) und Erzählen, von individuellen Schicksalen und ihrer weidwunden Verbindung mit kollektiver Geschichte und von einer ebenso gewalttätigen wie sicherheitsfanatischen Gegenwart. Der Roman wurde in der Hamburger Edition Nautilus veröffentlicht, die seit über fünfundvierzig Jahren ein „unkonventionelles, eigenwilliges und kämpferisches“ Programm herausgibt und jetzt auf der Hotlist 19 steht. Nirgendwo hätte Alikavazovics Roman, versiert übersetzt von Sabine Mehnert, besser hingepasst als unter dieses Dach.
Licht und hell wird es kaum in diesem Buch, das zunächst eine rasende, sexuelle Liebe zelebriert an einem Ort, der trister und funktionaler nicht sein könnte. Das betreffende Hotel in Paris ist in diesem Fall so ein Ort, an dem des Nachts sich Paul und Amélia begegnen und nach einander verzehren, monatelang, bis zu ihrem klammheimlichen Fortgang. Beide sind sie Architekturstudenten, stammen aber aus unterschiedlichen gesellschaftlichen und damit auch intellektuellen Milieus. Aber das macht nichts, Alikavazovic lässt Körper, Empfindungen und Wahrnehmungen sprechen und beweist ein hochfeines Gespür für atmosphärische Dichtheit und schamlose Intimität. Ihr Erzählen ist komplex, klug, provokant, motivische Schleifen ziehend, vor allem ist es kühl sezierend: Es wird aus einer unpersönlichen Perspektive berichtet. Als obskure Dritte im Bunde fungiert Professorin Anton Albers, bei der beide ein Semester zu Stadtvisionen besuchen und um deren Aufmerksamkeit sie buhlen. Mit Albers kommt der Begriff der Angsträume und eine weitere Facette der Dunkelheit in den Text.
Während der Vorlesungen schnappte jeder etwas auf, das nur für sie oder ihn bestimmt war, das an seine oder ihre innersten Urängste appellierte, für Paul war es die Stadt in der Dunkelheit, einer Dunkelheit, die in der Stadt eben nur noch als Konzept, als Abschreckung existierte.
Eine miterzählte, ja reißende Leerstelle im Buch wird die Mutter von Amélia bleiben, Nadia Dehr. Mutter und Tochter verbindet eine Geschichte des Verlusts, der Trennung, ausgehend von Nadia. Amélia wuchs generell allein, also fern anderer Kinder, und ohne die Mutter auf (viel später wird sich diese grundsätzliche Beziehungunfähigkeit bei ihrem eigenen Kind wiederholen), während Nadia sich im Zuge der grausamen Belagerung von Sarajevo mit ihren Gedichten wider den Krieg stemmte, von dem niemand etwas wissen wollte. Und so gehören die Nächte im Hotel neben dem Sex auch diesen eindringlichen Erzählungen Amélias von der Mutter und dem Krieg auf dem Balkan. Paul spürt den mit ihnen verbundenen Schmerz, die Unrast und den Drang seiner Gefährtin, das Leben aufs Äußerste herauszufordern.
Mantraartig spielt das Buch auf das Vergehen von Zeit an, am Schluss sollten es dreißig Jahre werden, in denen sich Amélia und Paul immer wieder begegnen und getrennt werden sowie eine gemeinsame Tochter bekommen, die von Paul großgezogen und dauerüberwacht wird. Ihre unterbrochene Liebe sollte fortan als Simulakrum gelebt werden.
Die Zeit verging. Sie liebten sich. Paul wollte alles von Amélia, ihren Geist, ihren Körper, die Wärme, die sie ausstrahlte und die man auch einige Zentimeter entfernt spüren konnte, und wenn man sich auf diese Strahlung konzentrierte, wenn man sie sorgfältig erfühlte, war sie fast wie eine Berührung.
Ein spektakulärer Roman über Gebrochenheit des Einzelnen und zeitgeschichtlich-zivilisatorische Brüche sowie deren radikale, unauflösbare Verstrickungen.
Senta Wagner
- Jakuta Alikavazovic: Das Fortschreiten der Nacht. Aus dem Französischen von Sabine Mehnert. 256 Seiten, gebunden. Hamburg: Edition Nautilus 2019. 22 Euro.