In ihrem Debütroman Das deutsche Zimmer, erschienen im Berenberg Verlag, erzählt die argentinische Autorin Carla Maliandi die Geschichte einer jungen Frau, die aus Buenos Aires aufbricht und nach Heidelberg zieht, in die Stadt, wo sie vor Jahren als kleines Kind mit ihren Eltern gelebt hat. Sie erzählt weder ihrer Mutter – der Vater ist verstorben – noch ihrem Freund, von dem sie sich kurz zuvor getrennt hat, dass sie geht. Sie lässt einen Ort zurück, an dem sie jahrelang gelebt hat, der jedoch für sie nicht (mehr) Heimat bedeutet. Ob sie in Heidelberg eine solche sucht, weiß sie wohl selbst kaum. Sie mietet sich in einem Studentenwohnheim ein, auch wenn sie nicht die Absicht hat, zu studieren. Bald schon realisiert die Ich-Erzählerin, dass sie schwanger ist. Dass zwei Männer als Väter infrage kommen, verstärkt ihr Gefühl der Verlorenheit. Im Wohnheim freundet sie sich mit der jungen Japanerin Shanice und dem Argentinier Miguel Javier an, dem „Tucumaner“. Sie begegnet Mario, auch er Argentinier, den sie bereits während ihres Aufenthaltes als Kind kennengelernt hat und der nun an der Universität lehrt. Und sie verliebt sich in Yusuf, den Freund von Mario. Zwar hat die Frau rasch Menschen um sich, doch es bleibt unklar, was sie mit diesen verbindet. Die Beziehungen bleiben oberflächlich, vielleicht können alle nicht anders.
Als sich Shanice das Leben nimmt – nie hätte die junge Argentinierin Anzeichen bei ihr erkannt –, begegnet sie deren verstörten Mutter. Die Ich-Erzählerin ist völlig überrumpelt, dass Shanice ihr alles, was sich in ihrem Besitz befunden hat, vererbt hat. Zwar kommt ihr vieles gelegen, etwa der Computer oder das Handy, aber weshalb Shanice so entschieden hat, kann sie sich nicht erklären. Sie haben sich doch eigentlich kaum gekannt. Für Shanices Mutter wird die junge Frau zur einzigen Person, die sie mit ihrer Tochter noch verbindet, und sie verfolgt sie hartnäckig überall. Die junge Frau ist hin- und hergerissen zwischen Ablehnung dieser ihr verrückt erscheinenden Person und Mitleid mit der verzweifelten Mutter, die ihre einzige Tochter verloren hat und offensichtlich vom Ehemann keine Unterstützung erfährt.
Die Frau spaziert durch die Stadt ohne Ziel, sie lässt sich zunehmend treiben und weiß immer weniger, was sie mit ihrem Leben anfangen soll. Carla Maliandi gelingt es immer wieder, vor allem diese Momente der Verunsicherung – die verstärkt werden durch die Begegnungen mit Shanices Mutter oder das Verhalten des „Tucumaners“ ihr gegenüber, den sie mag, aber kaum mehr von ihm will, der ihr auch hilft in ganz alltäglichen Dingen und ihr eine wichtige Stütze ist – glaubhaft zu vermitteln. In ihrem Roman, der flüssig von Peter Kultzen ins Deutsche übertragen worden ist, spannt die Autorin ein Netz zwischen Figuren, die alle verloren sind und nach Heimat, nach Geborgenheit suchen. Es finden sich Menschen zusammen, die keinen Boden mehr unter den Füßen haben. Dass sie sich solchen gegenseitig nicht geben können, erfahren sie immer wieder, ohne jedoch anders zu handeln. So bleiben sie sich letztlich bis zum Schluss fremd. Das offene Ende verstärkt diese Gefühle der Verlorenheit. Auf den knapp 170 Seiten haben sich einsame Frauen und Männer für kurze Momente getroffen, ohne sich näher zu kommen, bald schon gehen sie wieder auseinander – wohin wird sich weisen.
Liliane Studer
- Carla Maliandi: Das deutsche Zimmer. Roman. Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. Berlin: Berenberg Verlag 2019. 168 Seiten, Halbleinen. 24 Euro