Dieser Roman hat keine Handlung, die sich nacherzählen ließe. Er hat keine Figur, die als Hauptperson oder Held bezeichnet werden könnte. Ablösung von Tor Ulven handelt vielmehr von fünfzehn Charakteren unterschiedlichen Alters – es könnten auch einige wenige Personen in verschiedenen Zuständen oder Situationen sein, die Altersstufen reichen vom jungen Menschen bis zum Greis.
Wann immer sich etwas verändert, geht „eine Lichtquelle in eine andere über“, so der Autor in einem Interview. Das Licht (bzw. das Dunkel) nimmt einen großen Raum ein in diesem Roman.
Tor Ulven wurde 1953 in Oslo geboren, dort verbrachte er fast sein ganzes Leben. Im Jahr 1977 erschien sein erstes Buch: ein Lyrikband, diesem folgten Übersetzungen, weitere Gedichte, ab 1990 erschienen nur noch Prosatexte, Ablösung ist sein einziger Roman. Für die Publikation seiner Werke in deutscher Übersetzung durch Bernhard Strobel ist der Literaturverlag Droschl verantwortlich. Dort erschien auch der Geschichtenband Dunkelheit am Ende des Tunnels (vergriffen), der 2012 den Hotlistpreis gewann. 1995 setzte Ulven seinem Leben ein Ende.
„Ablösung“: Wer löst sich ab? Wovon? Von sich selbst oder von dem Bild, das man sich von sich gemacht hat?
Wieso interessiert du dich so für Bilder? Weil du dich selbst siehst in ihnen? Nein. Eher deshalb, weil es dich befreit vom Hineinsehen in einen wirklichen Spiegel und dem Ansehen dieses Gesichts, das einem gewöhnlichen neununddreißig-jährigen Mann gehören könnte, Familienstand ledig, dies Gesicht, das nach sieben plastischen Operationen immer noch nicht das deine ist, sondern eine linkische Nachahmung oder eine wenig treffende Karikatur. In den Bildern bist du selbst abwesend.
Die Protagonisten entzünden immer wieder eine Lichtquelle. Sei es ein Streichholz, eine Kerze, eine Zigarette, ein Feuer oder eine ganze Hütte. Blitze leuchten auf, erhellen das Meer und das Land, Glühbirnen lassen Zimmer taghell erstrahlen, indirekte Beleuchtungen Vitrinen sanft schimmern, Straßenlaternen stehen vor den Fenstern, sodass es niemals völlig dunkel wird, Autoscheinwerfer huschen umher, Röntgenstrahlen zeichnen Bilder des Inneren – diesen Lichtern geht der Autor nach, spürt sie auf, ertastet sie, setzt sie in Bezug zu seinen Figuren.
Diese ringen mit der Vergangenheit, träumen, erinnern sich an Gewesenes und Erhofftes, gehen manchmal mit ihren Mitmenschen ins Gericht, besuchen Jahrmärkte, verlieben sich, verlieren den geliebten Menschen (war es der Geliebte oder bloß ein Spiegelbild des Selbst?), sprechen von ihren Behinderungen, von den Kindheitsängsten, ein Nachtwächter erzählt von seinem Beruf, und immer wieder sprechen sie von der Dunkelheit, dem Dunkel, das alles aufsaugt, das an ein schwarzes Loch erinnert.
Mit Wiedererlangen des normalen Sehens gewahrst du ein anhaltend sommerliches Nachtklar allum; einzig die glatten Rundhöcker und die Gestalten, die du, beim Gehen, im Gegenlicht des Lagerfeuers siehst, sind rein, anonyme Schattenbilder, von kompaktem Dunkel geknetet, schwarz wie der eingebrannte Belag in einer alten Bratpfanne, schwarz wie die Pupille deines eignen Augs (man könnte also sagen, du sähest die Dinge aus dem Dunkel heraus), du siehst in dem Spiegel nichts als das Oberste des Leuchters, des Kerzenstumpfs und der langen, wie der blasse Spross einer Zwiebel emporschießenden Flamme.
Dieser eine lange Satz beheimatet viele Arten an Licht und Dunkel. Auch Wortwahl und Satzmelodie stehen beispielhaft für den Stil Ulvens, der sehr präzise ist, aber keinesfalls wie eine Beschreibung erscheint. Ulven schreibt melodiös, man hört das Ende des Satzes traurig verwehen in einem Ausklang an Doppelkonsonanten und langen Vokalen.
Er war auch Musiker, der gesamte Roman ist rhythmisch durchgestaltet. Die kurzen Abschnitte, die nicht inhaltlich, aber durch die Aufnahme eines Gedankens oder auch nur eines Wortes aus dem vorausgehenden, miteinander verbunden sind, reihen sich wie die Sequenzen eines Musikstückes aneinander – Stil und Sprache sind es, die den Zauber dieses Buches ausmachen.
Der Inhalt bleibt (mir) ein Stück weit rätselhaft. Das Zusammendenken einzelner Teile ergibt ein Bild, kein vollständiges jedoch. Für mich hat sich angesichts der diversen Feuer und dem immer wieder angesprochenen Spiegel, in den man sehen mag oder nicht, das Verhältnis des Menschen zur Natur und zu sich selbst herauskristallisiert. Weniger im Sinne eines „ich denke, also bin ich“, sondern eher als ein „ich sehe, also bin ich“ – dafür spricht die Begeisterung für Bilder, die genaue Zeichnung von Bildern dessen, was die Figuren des Romans sehen.
Der Mensch hat die Fähigkeit, das Dunkel zu vertreiben. Nicht vertreiben kann er jedoch die Angst in der Dunkelheit. Doch er braucht sie, die Dunkelheit, sie ist und bleibt das Pendant des Lichts. Sie ist nötig, wie der Spiegel nötig ist, um die eigenen Augen, das eigene Gesicht sehen zu können. Auch das kann Angst auslösen.
Die „Ablösung“ könnte ein Abschied von Sehnsüchten sein, von Ängsten, tatsächlichem oder befürchtetem Verlust. Das wäre in letzter Konsequenz eine Ablösung vom Ich, vom Leben.
Bernhard Strobel hat diesen Roman meisterhaft ins Deutsche übertragen, das lassen schon die Zitate erkennen. Dank ihm ist die Lektüre nicht nur eine Herausforderung, sie ist auch eine Freude.
- Tor Ulven: Ablösung. Aus dem Norwegischen von Bernhard Strobel. Graz: Literaturverlag Droschl 2019. 144 Seiten, gebunden. 20 Euro.