Doppelporträt: Dinçer Güçyeter und der ELIF VERLAG

Aus heutiger Sicht mag Friedrich Hölderlins Behauptung „Was bleibet aber, stiften die Dichter“ vielleicht ein wenig übertrieben anmuten ­– verzichtbar aber ist das, was diese geschaffen haben und – auch wenn sie sich nicht unbedingt mehr „Dichter“ nennen – heute schaffen, keinesfalls. Und damit ihr Tun die Öffentlichkeit erreicht, braucht es nicht zuletzt engagierte Verlage, die das sprachliche Kunstwerk drucken und vervielfältigen und in den Dialog zwischen Autor und Leser bringen.

Einer dieser Verlage ist der ELIF VERLAG. Wiewohl bereits 2011 gegründet, habe ich ihn erst im Sommer 2015 beim „Festival der multikulturellen Literatur“ in Köln entdeckt. Unter den Eingeladenen war auch ein Lyriker namens Dinçer Güçyeter, dessen Auftritt ich allein schon aus einem eher profanen Grund nicht missen wollte: Der gelernte Werkzeugmacher, dessen Eltern aus Anatolien stammten, war im selben Ort am Niederrhein geboren und aufgewachsen, in dem auch ich vor erheblich mehr zurückliegenden Jahren zur Welt gekommen war.

Von Beginn an war es ein großer Abend für mich. Der Dichter auf der überdimensionierten Bühne ließ uns Wörter wie Wolke, Stern, Wunde, Wurzel, Herz, Dorn – Wörter, die der deutschsprachige Lyriker (und Leser) gemeinhin längst in eine Kitschecke verbannt hatte – in seinen Gedichten mit verblüffender Furchtlosigkeit als Ausdruck einer Unbedingtheit und großen melancholischen Sinnlichkeit erfahren. Gelesen hat er aus seinem Gedichtband ein glas leben, der Gedichte von 2002–2006 versammelt, und dem nachfolgenden Band anatolien blues mit Gedichten von 2007 bis 2011. Und erschienen sind diese beiden inzwischen längst vergriffenen Bände als erste Publikationen im besagten ELIF VERLAG. Aktuell ist dort Güçyeters Band Aus Glut geschnitzt erhältlich.

Man mag nun daraus schließen, der Verlag sei allein deshalb gegründet worden, um die Gedichte des Verlegers selbst in die Öffentlichkeit zu bringen, doch wäre dies zum einen ja nicht nur verwerflich, zum anderen ­– selbst wenn es so gewesen wäre –, so glaube ich, Dinçer Güçyeters Naturell hätte es nie und nimmer entsprochen, dass es dabei bliebe. Dem damals Zweiunddreißigjährigen, der sich vom ersten selbst verdienten Geld einen Gedichtband von Rainer Maria Rilke gekauft hatte, der außer Lyrik Theaterstücke schrieb und bald auch als Regisseur und Schauspieler arbeiten sollte, ihm waren Gedichte schon früh ein notwendiges Lebensmittel, das es zu mehren und zu verteilen galt.

Und so veröffentlichte er in seinem Verlag sehr bald schon weitere Gedichtbände und – neben einigen wenigen Prosa-Publikationen – mehrere Lyrikanthologien, zuletzt 2019 Cinema (hg. von Dinçer Güçyeter und Wolfgang Schiffer) mit Gedichten von über sechzig deutschsprachigen Schriftsteller*innen.

Das Programm

Heute umfassen das aktuelle Programm und die Backlist mehr als vierzig Titel, eine beachtliche Zahl für einen Ein-Mann-Verlag, geschrieben und nicht selten veröffentlicht als erste Publikation von deutschsprachigen Autor*innen wie Julia Dathe, Anke Glasmacher, Christoph Danne, Rolf Birkholz, Michael Starcke, Rolf Birkholz, Şafak Sarıçiçek, Guiliano Spagnolo, Jonas Hartmann, Stefan Heuer, Hakan Tezkan, Özlem Özgül Dündar, Bernd Freytag, Hung-Min Krämer, Monika Vasik, Jan Kuhlbrodt und anderen.

Die Lyrikerin Dündar etwa wurde 2018 anlässlich des Bachmannpreises mit dem Kelag-Preis ausgezeichnet.
Das Programm umfasst aber auch in Erstübersetzungen Stimmen türkischer Poesie und macht uns auf diese Weise mit einer Lyriklandschaft bekannt, die man wohl noch zu Recht als eine weitreichende Terra incognita bezeichnen darf. Hier stehen insbesondere Namen wie Gülbahar Kültür, Ilhan Berk, Lale Müldür, Gonca Özmen und Haydar Ergülen für das besondere Engagement des Lyrikers und Verlegers und wohl auch für sein Geworfensein in zwei Lebenswelten, von denen er keiner in Gänze zugehörig ist.

Island

Nun gibt es im Verlag eine noch nicht erwähnte Sprach- und Kulturlandschaft, aus der inzwischen ebenfalls einige Gedichtbände in deutscher Übertragung erschienen sind und die eine kleine Besonderheit im Verlagsprofil bildet: das Isländische.
Ich durfte bald nach unserem Kennenlernen ein wenig Einblick nehmen in die Arbeit des Verlags, quasi bei den Entscheidungsfindungen des Verlegers zusehen, dessen Sache, so schien mir, weniger literarische Theorien, Methoden oder Konzepte waren (und wohl immer noch nicht sind), sondern ein sicheres, geradezu organisches Gespür für existenzielle Beweggründe, für Authentizität, für präzises hellhöriges Nachempfinden als Voraussetzung guter Literatur, insbesondere guter Lyrik.

Ich hatte mir vorgenommen, meine Versuche zu intensivieren, die zeitgenössische Dichtkunst Islands, die mich in ihrem Facettenreichtum seit Langem faszinierte, hier bekannter zu machen, und daher gemeinsam mit meinem isländischen Malerfreund Jón Thor Gíslason als Muttersprachler mehrere Gedichte isländischer Autor*innen ins Deutsche übertragen. ELIF war nach ersten Leseproben sofort zu einer Publikation bereit; so sind drei Gedichtbände seit 2017 erschienen, deren poetischer Grundton unterschiedlicher nicht sein könnte, darunter Gedichte erinnern eine Stimme von Sigurður Pálsson, der auf der Kandidatenliste für die Hotlist 2019 steht.

Für den ELIF Verlag ist dies zweifellos einmal mehr Motivation, weiter das feste Ziel zu verfolgen, mit seinen Publikationen im Sinne der Bibliodiversität zur Vielfalt der Buchkultur beizutragen und damit zu kultureller Transparenz, zum Austausch zwischen Kulturen und Generationen.

Wolfgang Schiffer

 

 

 

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