Llucia Ramis: Verortungen (Orlanda Verlag)

Im katalanischen Original trägt der Roman von Llucia Ramis den Titel Les possessions, wörtlich übersetzt „Besitz“. Mit diesem Wort bezeichnet man einen Landbesitz – das ist etwas ganz anderes als ein Vermögenswert.
Für die dreißigjährige Ich-Erzählerin ist Can Meixura, das Landgut der Großeltern auf Mallorca, der Ort ihrer Kindheit. Zwar lebte sie bis zum Beginn ihres Studiums mit den Eltern in Palma, die Wochenenden und Ferien verbrachte sie jedoch dort. Zu Studium ging sie deshalb nach Barcelona, weil Journalismus in Palma nicht angeboten wurde. In Barcelona ist sie geblieben, arbeitet für eine Zeitung, veröffentlicht Bücher und hat sich in der Unsicherheit eingerichtet: Keine Festanstellung, kein sicheres Einkommen, keine vorgezeichnete Karriere. Für ihre Generation ist das der Normalzustand, umso wichtiger sind die Orte, die mit Sicherheit und Beständigkeit verknüpft sind, Orte, an die Erinnerungen gebunden sind.

Auf Mallorca und in Barcelona spielt der Roman, auf zwei Zeitebenen: in der Gegenwart des Jahres 2007, alles, was in dieser Zeit spielt, ist im Präsens erzählt, und Mitte der Neunzigerjahre bzw. ganz konkret 1993, als ein Ereignis in Madrid das Lebensgefüge der Familie verändert. Der eigentlichen Geschichte vorangestellt ist eine Szene, die die Erzählerin und ihre Eltern an einem ganz normalen Abend, kurz vor dem Essen zeigt. Man sitzt etwas gelangweilt vor dem Fernseher, als eine ungeheuerliche Nachricht gesendet wird: „Heute Morgen hat der Unternehmer Benito Vasconcelos in seiner Villa in La Moraleja seine Frau und seinen sechzehnjährigen Sohn getötet und sich danach das Leben genommen.“
Dieser Benito Vasconcelos ist der Geschäftspartner des Großvaters. Ein halbes Jahr ist der „geistesabwesende Belgier“ nun im Ruhestand. Er hat Madrid zusammen mit seiner Frau verlassen, die beiden leben seitdem dauerhaft auf Can Meixura. Die Erzählerin ist so alt wie Alejandro, der getötete Sohn, sie haben bei Besuchen der Familie auf der Insel zusammen gespielt.
In Folge der Tat Vasconcelos verliert der Großvater sein Vermögen. Zwar hatte er absolut nichts von den Machenschaften seines Partner gewusst, aber er war Präsident und Mitgesellschafter, also haftbar. Can Meixura wird verkauft.

Wie eine verlorene Seele, eine ganz und gar verlorene Seele ging ich durch alle Räume, in der Hoffnung, etwas von mir bliebe für immer in diesem Haus zurück, so wie sich mir dieses Haus bis an mein Lebensende einprägen würde. Schau dir alles gut an. Vergiss nicht den selbstgemachten Tisch im blauen Zimmer, … vergiss nicht den eisig kalten Boden, … vergiss nicht den Gesang der Nachtigall, …

Das war im Jahr 2006, da ist die Erzählerin noch mit Ivan, einem Kollegen, zusammen. Er ist ein fröhlicher, lebensbejahender Mensch, der seine Freundin liebt und ihre Arbeit schätzt, doch er hat eher konservative Vorstellungen von Familie. Vor allem aber hat er eine andere Arbeitsweise: Immer ist er auf einer heißen Spur, ohne Pause verfolgt der Investigativjournalist eine Geschichte. Er kann sich verrennen, arbeitet wie ein Süchtiger, nicht immer sorgfältig genug. Er ist sich sicher, dass er überwacht wird, und wird tatsächlich einmal unter Vorwänden verhaftet, muss eine Nacht im Gefängnis verbringen. Zum Bruch der Beziehung führt allerdings etwas anderes.
Zu den aktuellen Problemen mit Ivan gesellen sich für die Erzählerin die mit ihrem Vater. Seitdem dieser im Ruhestand ist, verhält er sich äußerst seltsam. Besorgniserregend ist vor allem, dass er sich in den Kampf gegen die Ungerechtigkeit der Welt gestürzt hat. Er hat einen Blog, er schreibt an die großen und kleinen Zeitungen. Auslöser für die jüngste Welle an Artikeln war die Errichtung einer Mauer durch den Nachbarn, direkt vor seinem geerbten Landhaus Son Cors, das er renovieren und wieder bewohnbar machen wollte. Diese Mauer ist der Inbegriff des Unrechts, der Vater ist bereit, sich durch alle Instanzen zu kämpfen. Seine Tochter plagt indes die Sorge, er könnte an Demenz leiden. Er verhält sich völlig unangemessen, nimmt selbst gar nicht mehr wahr, was er eigentlich tut. Ihre Mutter beschwichtigt, spricht von einer Krise, die vorübergehen wird. Und dann verschenkt der Vater auch noch Son Cors. Die Tochter ist außer sich.

Und ich habe vermutlich kein Recht, etwas einzufordern, weil ich ja noch nicht einmal auf Mallorca lebe. Aber nichts zu haben, wohin man zurückkehren kann, einen Ort, den du kennst und an dem du weißt, wer du bist, keine Ahnung, aber das macht mir Angst. Ich fühle mich, als ab ich nirgendwo mehr hingehöre. Letztendlich ist alles Erinnerung, oder? Und obendrein fühle ich mich auch noch egoistisch, weil ich davon ausgegangen bin, ein Haus zu haben, von dem du sagst, dass es mir niemals gehört hat.

Die Antwort der Mutter: „Schatz, nichts zu haben, wohin man zurückkehren kann, darin besteht das Erwachsenwerden.“

Es geht um viele Themen in diesem Roman: Wo ist die Heimat eines Menschen? Befreit die Tatsache, nichts gewusst zu haben, von Schuld? Wie sehr kann sich eine in der Vergangenheit begangene Tat auf das Leben völlig Unbeteiligter auswirken? Wie unterschiedlich reagieren Menschen, die mit einer Veränderung (sei sie persönlicher oder beruflicher Art) zurechtkommen müssen? Es geht außerdem um Wirtschaftskriminalität, die Verstrickungen der Justiz, das Leben in Spanien in und nach der Transicíon, dem Übergang von der Diktatur Francos zur Demokratie.
Der dritte Teil des Buches geht ganz explizit auf das Thema „Schreiben“ ein. Die Erzählerin, die Journalistin, hat auch einen Roman veröffentlicht. Er stellt die Dreißigjährigen in den Mittelpunkt, wird als „Generationenroman“ bezeichnet. Sie erhält viele Zuschriften, ist in Kontakt mit ihren Lesern. Bis manche ihr deutlich zu nahe treten, Sympathie in Antipathie umschlägt, als sie einen privaten bzw persönlichen Kontakt ablehnt, bis hin zu einem Stalker.
Der Blog des Vaters als moderne Publikationsform mit der Möglichkeit für jeden Leser, einen Kommentar zu hinterlassen und sich damit (wie der Blogger selbst) auf die Stufe eines Berufsjournalisten zu stellen sowie das Verhältnis Autor/Journalist (hier vor allem in den Personen Ivan und Marcel, dem ehemaligen Freund der Erzählerin) zu seinen Lesern und zur Wahrheit sind in den Roman eingewoben und werden von verschiedenen Seiten beleuchtet.

Was also zunächst als Familiengeschichte beginnt, mit einer Tochter, deren Beruf das Schreiben ist, die von der Vergangenheit und ihrer aktuellen Situation berichtet, entwickelt sich zu einem sehr vielfältigen Roman. Da er nicht chronologisch erzählt wird, sondern in Schleifen auf bestimmte Punkte zurückkommt und den Geschehnissen immer wieder eine weitere Variante hinzufügt, ist er auch spannend zu lesen. Er lässt dem Leser Zeit, sich einzufinden und der Autorin an all die Plätze zu folgen, an denen sie ihre Erinnerungen verortet.
Llucia Ramis ist selbst Journalistin, Moderatorin, stammt aus Mallorca, lebt in Barcelona und teilt mit ihrer Erzählerin das Alter (geboren 1977). Ihr erster Roman aus dem Jahr 2008 trägt sinngemäß übersetzt den Titel Dinge, die Ihnen in Barcelona passieren, wenn Sie 30 Jahre alt sind – diesen Roman hat ihre Ich-Erzählerin im vorliegenden Buch geschrieben.
Verortungen, Ramis‘ erstes ins Deutsche übersetzte Buch, ist ihr vierter Roman. Auf Mallorca gilt er als Schlüsselroman und ist ein treffliches Beispiel für das autofiktonale Schreiben, das besonders in Katalonien die Erzählform der Generation von Llucia Ramis ist. Der Hinweis der Autorin „Jede Ähnlichkeit mit der Realität ist reine Fiktion“ zu Beginn ihres Buches stimmt darauf ein. Es ist jetzt im engagierten, langlebigen Hamburger Orlanda Verlag erschienen. Durch einen Buchstabendreher hat man dort aus Virginia Woolfs Orlando eine weibliche Figur gemacht. „Orlanda widmet sich neben dem Bereich Frauen Themen rund um eine Welt in Bewegung und bietet Raum für tiefergehende Gedanken, Erlebnisse und Überlegungen.“

Petra Lohrmann

 

  • Llucia Ramis: Verortungen. Aus dem Katalanischen von Heike Nottebaum. Hamburg: Orlanda Verlag 2019. 280 Seiten, Broschur. 22 Euro.

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