Gedächtnisgeher mit den Füßen im Schotter
Ein poetisches Klagelied, eine bittere Lebensbilanz, ein meisterliches Stück Literatur: Der 82-jährige Kärntner Slowene Florjan Lipuš hat mit Schotter, aktueller Frühjahrstitel bei Jung und Jung, ein Buch vorgelegt, das den Besuch einer Gruppe von „Gedächtnisgehern“ in ein ehemaliges Konzentrationslager zum Ausgangspunkt nimmt, um Verdrängungs- und Vertuschungsmechanismen in einem Kärntner Dorf zu analysieren.
„Der Knabe und das Mädchen“, Teil einer Gruppe von „Gedächtnisgehern“ aus einem nicht näher genannten Ort. Sie besuchen die Gedenkstätte eines ebenso wenig näher bezeichneten Frauenkonzentrationslagers. Die beiden wollen der Großmutter nachspüren, die hier zugrunde gerichtet wurde. Der Knabe und das Mädchen tauchen ein in die immer noch lähmende Atmosphäre der Gedenkstätte aus Baracken, Appellplatz und dem titelgebenden Schotter, der den Boden bedeckt. Jener Stein, den die Gefangenen einsammeln und in Wagen bringen mussten. Auszehrende, oft tödlich endende Zwangsarbeit. Der Tod konnte sie freilich überall und jederzeit im Lager ereilen. Auf dem Appellplatz, beim stundenlangen Stillstehen etwa. Wer sein Gewicht auf das andere Bein verlagerte, konnte des Todes sein – wenn die Peinigerinnen es mitbekamen.
Der Knabe und das Mädchen setzen ihre Füße in den Schotter, sie warten auf ein Zeichen der Großmutter. Als es nicht kommt, sind sie enttäuscht. Und kehren mit der Gruppe der „Gedächtnisgeher“ ins Dorf zurück, aus dem sie kamen. Dort wartet bereits eine neue Prüfung auf sie: der Umgang mit Misstrauen, Feindseligkeit und Ignoranz der Dörfler.
Florjan Lipuš, 1937 in Eisenkappel/Zelezna Kapla geboren, sah als Sechsjähriger mit an, wie seine Mutter verhaftet wurde, nachdem sie als Partisanen verkleidete Gestapo-Männer bewirtet hatte. Die Mutter wurde im KZ Ravensbrück ermordet, der Vater kam zur Wehrmacht. Lipuš ist Teil der immer kleiner werdenden Minderheit der Kärntner Slowenen, er schreibt ausschließlich auf Slowenisch. Hätten Peter Handke und Helga Mračnikar seinen 1972 im Original erschienenen Roman Der Zögling Tjaž (1981, bei Jung und Jung in der Reihe Österreichischer Eigensinn 2015) nicht ins Deutsche übersetzt, hätte sich Florjan Lipuš wahrscheinlich nur im Kärntner Raum einen Namen gemacht. Das ist nun Gott sei Dank anders, und dazu hat auch der Große Österreichische Staatspreis beigetragen, der dem Dichter 2018 verliehen wurde. Zu erwähnen ist auch, dass Johann Strutz, der Lipuš‘ spätere Werke ins Deutsche übertrug, ebenfalls mit dem Großen Österreichischen Staatspreis für literarische Übersetzer ausgezeichnet wurde.
Strutz hat nun auch Schotter übersetzt, einen Text, den Handke im Klappentext „einen gegliederten Aufschrei“ nennt: „Die Sprache knirscht mit den Zähnen, und gleichzeitig singt sie.“ Zitieren möchte man aus jeder der knapp 140 Seiten, denn jede liest sich in ihrer archaischen Wucht und Unbedingtheit wie ein sprachliches Destillat, das sich gleichsam nur in kleinen Dosen aufnehmen lässt. Der Text ist ja auch in kurze Abschnitte gegliedert, aus jedem von ihnen spricht Florjan Lipuš‘ Sprachkunst; aus jedem von ihnen Lebenswunden:
„Das Mördergeschlecht kam nicht aus der Hölle gekrochen, wurde nicht aus giftigem Ungeziefergewimmel geboren, das Mördergeschlecht waren die Nachbarn, die bei der Ernte halfen und beim Einbringen der Wintervorräte. Das Mördergeschlecht waren die Gläubigen, die in die Kirche gingen und die Sakramente empfingen. Das Mördergeschlecht waren die gestern noch freundlichen Verwandten, die langjährigen Bekannten und Genossen, die Verliebten, die Wohltäter und Freunde, die Gelehrten und Geschulten, mit den akademischen Titeln die Männer und Frauen mit Eigenschaften und ohne Eigenschaften, die auffälligen und die unauffälligen Gemeindebürger, die bisher mit nichts Bösem Aufmerksamkeit erregten.“
Florjan Lipuš schlägt in Schotter einen unverkennbaren Ton an, um gegen das Verdrängen und Vergessen anzuschreiben – dem Buch nach allerdings ohne jede Aussicht auf Erfolg. Im vergangenen Jahr hatte Lipuš übrigens noch die Ehrenbürgerwürde der Kärntner Gemeinde Sittersdorf/Zitara Vas zurückgegeben. Er protestierte damit gegen einen Gemeindebeschluss, wonach in Sielach/Sele (der Ort, wo Lipuš lebt und der zu Sittersdorf gehört) keine zweisprachigen Ortstafeln aufgestellt werden: „Ich will nicht Ehrenbürger einer Gemeinde sein, die vor der slowenischen Sprache und den Menschen, die sie sprechen, keine Hochachtung hat“, so Florjan Lipuš.
Alexander Musik
- Florjan Lipuš: Schotter. Salzburg: Jung und Jung Verlag 2019. 140 Seiten, gebunden. 20 Euro.
Zur Wieder- oder Neulektüre ans Herz gelegt:
- Florjan Lipuš: Der Zögling Tjaž. Roman und Nachschrift. Salzburg: Jung und Jung Verlag 2019. 324 Seiten, Leinen. 22,50 Euro.