Bushaltestelle – der schlichte Titel entspricht dem schicksalergebenen Wesen der Hauptpersonen des Romans von Ulrike Anna Bleier. Doch darf von der Beiläufigkeit, mit der die Ereignisse daherkommen, keineswegs auf seichte Unterhaltung geschlossen werden. Ulrike Anna Bleier unterschätzt ihre Leserinnen und Leser nicht. In der Prosa-Reihe des Blogs „Indie-Autorinnen schreiben“ hat die Autorin zwei Kapitel daraus veröffentlicht. Im September ist der Roman im lichtung verlag erschienen.
Das aufregende Leseerlebnis verdanken wir weitgehend der Kunst der Autorin, die notwendigen Informationen geschickt zu dosieren. Es ist bei aller Unaufdringlichkeit im Erzählton eine Menge Ungeheuerliches, was den Romanfiguren widerfährt.
Geografisch springt die Handlung zwischen einer kleinen Stadt in Bayern, unweit der tschechischen Grenze, und dem lange Zeit hinterm „Eisernen Vorhang“ verborgenen Nachbarland, das in seiner Geschichte einmal Tschechoslowakei hieß und leider auch einmal von deutscher Seite Protektorat Böhmen und Mähren genannt wurde.
Komplexes Beziehungsgeflecht
In kurzen Kapiteln mit jeweils eigenen Überschriften wird ein zeitlicher Bogen über vier Generationen gespannt; Tochter, Mutter, der Bruder der Tochter mit Frau und Kindern, die Geschwister der Mutter, zusätzlich eine Adoptivtochter der Großeltern, die Partner und Partnerinnen der Hauptpersonen sowie einige Nachbarn bilden ein komplexes Beziehungsgeflecht. Im Mittelpunkt steht Elke, die eigentlich – in ihrer Familie und was ihre gesellschaftliche Stellung betrifft – so überhaupt nie im Mittelpunkt gestanden hat. Grammatisch in der 2. Person, der Du-Form, erzählt sie die Geschichte von Theresa, der abwesenden Mutter. Geht es jedoch um Elkes eigene Geschichte, wechselt die Erzählperspektive in die 3. Person. Womöglich ist Elkes Selbstbewusstsein zu wenig ausgeprägt, um aus einer Ich-Perspektive von sich erzählen zu können. Da ist kein starkes Ich vorhanden. Wie sollte es sich auch entwickelt haben bei ihr, die seit ihrer Geburt von der Mutter abgelehnt wurde.
Traumatische Geburt
Es war eine traumatische Geburt; Theresa hat viel Blut verloren und wurde ohne Narkose mit zwanzig Stichen „zugenäht“. Zu ihrem Entsetzen hat Elke die roten Haare ihres Vaters Sepp. Ihn hat Theresa nur geheiratet, weil die sich anbietenden Alternativen noch schlimmer gewesen wären; es war eine Dann-schon-lieber-den-Sepp-Heirat.
Im Grunde hat Theresa immer ihren Bruder Martin geliebt. Ihren Schulabschluss wollen Martin und sein Freund Sepp mit einem Ausflug in ihrem Hanomag feiern. Theresa willigt ein, wegen ihres Bruders Martin, nicht wegen Sepp.
Es kommt während des Ausflugs zu einem Unfall, für den wahrscheinlich Sepp weniger als Martin verantwortlich ist, aber Sepp begreift seine Schuldgefühle auch als Chance, sich Theresa zu nähern, die sich im Krankenhaus seiner Fürsorge nicht erwehren kann.
Der kleine Bruder
Trotz der Zurückweisung des Ehemanns und der Überempfindlichkeit nach Elkes Geburt bringt Theresa ein zweites Kind zur Welt, dieses Mal mit einem Schnitt, den sie unter Narkose nicht mitbekommt. Den Jungen, den sie leider nicht nach ihrem Bruder Martin nennen darf, dafür aber den ähnlich klingenden Namen Markus wählt, wird sie abgöttisch lieben.
Das Mädchen wird im mehrfachen Sinne zu einer Außenstehenden. Bereits als Kind lernt Elke, aus ihrem Körper herauszutreten. Zum ersten Mal wird ihr diese Fähigkeit während einer Busfahrt bewusst, zu der eine Nachbarin sie eingeladen hat:
„Und plötzlich fand sie sich da wieder, wo sie hinstarrte, und das war die andere Seite der Busfensterscheibe, erst noch in der Luft und dann an einer Ecke, wo sie sich umsah und dann winkte, dorthin winkte, wo sie stehengeblieben war, und dem Bus, in dem ihr eigener Körper saß, hinterherblickte.“
Die andere Seite, die Sicht von außen, Blicke durch Fenster, der Doppelgänger oder Wiedergänger durchziehen leitmotivisch den Roman. Es ist das Außerhalb-Stehen, das die innere Distanz ermöglicht. Elke wurde als Kind stets übersehen, und spätestens im Erwachsenenalter bekommt ihre beobachtende Präsenz etwas Unheimliches:
„Markus blickt plötzlich in Richtung Fenster, aber er kann niemanden sehen, weil Elke kein Licht in der Diele gemacht hat.“
Ein anderer solcher gespenstischen Momente begegnet uns an der Endstation eines Zuges, aus dem sie vergessen hat auszusteigen:
„Der Bahnsteig ist ansonsten leer. Eine Geisterstadt. Elke sieht sich selbst am Fenster stehen und hinausschauen und etwas steht auf der anderen Seite und sieht hinein.“
Pointierte Prosa
Das alles wird uns nicht in zeitlicher Reihenfolge erzählt; die Lektüre wird zum Puzzle und bleibt trotz der düsteren Geschehnisse ein reizvolles Abenteuer. Es ist Ulrike Anna Bleiers pointierte Prosa, die ihre Figuren so gut vorstellbar werden lässt. Die Autorin versteht es, die Eigenheit von Charakteren mit wenigen Strichen zu skizzieren.
Muster wiederholen sich, werden von Generation zu Generation weitergegeben. Nicht nur die roten Haare, die auch bei Elkes Nichte Luisa wieder auftauchen, vererben sich. Auch das Motiv der juckenden Wunde – bei Theresa seit dem Unfall besonders ausgeprägt – wird auf mysteriöse Weise tradiert. Und nicht zuletzt das Thema des Verschwindens, das sich durch den Roman zieht. Bereits in Ulrike Anna Bleiers erstem Roman Schwimmerbecken der es 2017 als eines der zehn besten Bücher aus der Produktion unabhängiger Verlage auf die Hotlist schaffte, ging es um das Verschwinden – und das Wiederauftauchen – eines der Protagonisten. In Bushaltestelle verschwinden außer Elke gleich mehrere Personen, manche im Krieg, andere, um dem Elternhaus zu entkommen, und die jüngste wohl eher aus Versehen.
Ohne das treffsichere Sprachgefühl der Autorin, das sich oft in einer lakonischen Erzählstimme äußert, wäre die Lektüre der traurigen Geschichten wohl kein Vergnügen. Das folgende Beispiel soll den Aufbau eines Satzes, das Fortschreiten eines Gedankengangs, verdeutlichen – Martin, Elkes Onkel, hat bereits während des Kriegs mit einer Sondergenehmigung Magdalena und Hans auf der Burg in Mähren besucht:
„Dein Bruder gefällt mir, hatte der Hans gesagt, er ist eine ehrliche deutsche Haut, und Tante Madla dachte in ihrer Küche über den Ausdruck nach, ehrliche Haut, denn bei Haut dachte sie an Abziehen bei lebendigem Leib, ob ehrlich oder nicht, doch nirgendwo zog man Martin die ehrliche Haut ab, er erhängte sich ganz einfach, zuhause in der Wehrgasse, mit einem Kleiderbügel im Kleiderschrank.“
Das kurze Kapitel, in dem wir auf diese Weise von Martins Suizid erfahren, ist „Kleiderbügel“ überschrieben. Theodor W. Adorno hat in seinem Nachwort zu Walter Benjamins Briefsammlung Deutsche Menschen (1936) den Lakonismus die „sprachliche Form der bedeutenden Nüchternheit“ genannt. Alles an dieser Kennzeichnung trifft auch auf Bushaltestelle zu – der ausgeprägte Formwille, die Bedeutsamkeit des Erzählten und die Nüchternheit, mit der vom Unfassbaren gesprochen wird.
Der Autorin gelingt es mit ihrem empathischen Blick, den im Leben Benachteiligten eine ausgleichende Gerechtigkeit als Romanfiguren zuteilwerden zu lassen. Liebe, Anerkennung, ein erfülltes Leben oder die volle Ausbildung der geistigen Kapazitäten, Notwendigkeiten, die das gute Recht eines jeden Menschen, jedoch bei keinem Gericht der Welt einklagbar sind – es bedarf solcher Autorinnen wie Ulrike Anna Bleier, um die Ungesehenen aus ihrem Schattendasein ins Licht zu rücken. Literatur, Kunst überhaupt, ist eben doch die letzte Instanz.
Wolfgang Cziesla
(der Beitrag ist in der originalen Langfassung hier erschienen)
- Ulrike Anna Bleier: Bushaltestelle. Viechtach: lichtung verlag 2018. 224 Seiten. 17,90 Euro.