Dichterpost aus Wien – kikeriki, Kinn, Kino, kirre, Kirschen

Echte kleine Lyrikverlage gibt es wenige. Ihr Machen und Tun für die Poesie der Gegenwart ist dafür groß, wie das von kookbooks oder dem Label roughbooks (Urs Engeler Editor). Dann gibt es die kleinen spezialisierten Verlage wie die Edition Korrespondenzen, die neben Prosa einen starken Lyrikschwerpunkt hat und sich weit öffnet für den slawischen Sprachraum. Schließlich gibt es die Kleinverlage, die es versuchen mit der Lyrik. Man weiß, schwierig, schwierig, kleine Auflagen, überschaubare Leserschaft, Zurückhaltung im Buchhandel. Dennoch allerorten flirrt die Dichtkunst. Es gibt eine junge, bestens vernetzte Dichtergeneration, Festivals, Lyrikpreise, Wettbewerbe, grenzüberschreitende Lyrikprojekte, Veranstaltungen. Lyrik wird also produziert, Qualität reflektiert.

Der Klever Verlag aus Wien hat seit 2013 eine eigene Lyrikreihe in seinem Programm. Handlich im 11 x 17-Format und unauffällig im Aussehen liegen bisher vier gebundene Bändchen vor. Für einen Literaturverlag, der Texte auf ihre „originäre Formensprache“ abklopft, ist der „poetische Beitrag“ von Lyrik eigentlich ein Muss. Tatsächlich finden sich bei Klever bereits verstreut Bücher mit Gedichten beispielsweise von der wunderbaren Waltraud Haas, Adelheid Dahimène oder Herbert J. Wimmer. Als Band 3 der Reihe erschien 2014 das aufregende und schöne Lyrikdebüt narkotische kirschen der Düsseldorferin Sina Klein.
Darin fünf Zyklen mit Gedichten angesiedelt im Grau zwischen Tag und Nacht, mitsamt nachtaktiver Vögel. Sie nehmen ein mit ihrer nicht am Alltag entlehnten, oft surrealen Bildsprache. Die Sinne sind gespitzt. Es findet sich die Genese des Gedichts „narkotische kirschen“ ebenso wie die einstrophigen Gedichte schier 1 bis schier 16, vielleicht so was wie Erprobungen oder Materialsammlungen (schier = rein). Klein ruft auf launige Weise Mustertypen des Märchens (siehe unten „schnee w.“) auf, des Weihnachtsliedguts und Klassiker der Literatur wie die Unendliche Geschichte.

klein„Sina Kleins narkotische kirschen sind den rätselhaften Formen und Zuständen der Lyrik zugewandt, innerhalb derer das Gedicht sein suggestives Potential entfalten kann. Neben der klanglichen Gestaltung beruht dies auf allerart Rückbezüglichkeiten zwischen Mikro- und Makroebene und dem Aufgeladensein der Sprache als solche. – Eine Überlagerung von kulturellem Wissen, subjektiver Beobachtung und latenter Evokation. Gedichte, die auf eine organische Weise zugänglich werden und weniger durch rationale Verstehensprozesse in Kontakt treten wollen, als durch unmittelbare Sinnlichkeit. Bildlich kippen sie oft vom Bekannten ins Unwirkliche, Chaotische um und thematisieren Paradoxien des inneren und äußeren Erlebens.“ (Klever Verlag 2014)

  • Sina Klein: narkotische kirschen. Gedichte. Wien: Klever Verlag 2014. 102 Seiten. 15,90 Euro

5 h 38

dann bin ich graugemisch aus nacht und tage,
dazwischen, greife beider hände: heiße, kühle.

sie reichen mir die maske, die ich trage,

ihr mund wurd zwie gespalten im gewühle,
zerschüttelt und verrührt in schiefe lage
– verweint er, lachend / welt besetzt zwei stühle.

ich fühle cocktailkirsche pochen in der brust
noch vage das kandierte herz, entkernt.
bin aufgewühlt / umgebung bleibt robust,

hab als fragment das 1-sein ganz verlernt.

(aus: Sina Klein, narkotische kirschen; 2 nachtschaden)

schnee w.

liebelein dreh dich, der apfel vergeht nicht,
das apfelstück steckt in der kehle , verschließt dich
das fleisch einer bitteren frucht: spuck es aus –

denn weiß bald dein haar, wenn das ebenholz droht
und dein kopf alle farben getauscht hat, da waren
schon mieder und kämmchen, die schnürten und stachen,

liebes, ich sage: der winter der unter dir ruht, blüht rot.

(aus: Sina Klein, narkootische kirschen; 3 narkotische kirschen)

schier 3

wir lachen das korn aus den ähren,
stechen die sonne ab, sammeln
das süßliche licht bei den beeren,
beschmieren einander den stammelnden mund
mit sommer –

(aus: Sina Klein, narkotische kirschen; 4 schier)

senta wagner

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