Carolina Schutti: Der Himmel ist ein kleiner Kreis (Droschl Verlag)

„Meinen Sie nicht, dass jetzt genug ist?“ – mit dieser Frage wird die namenlose Ich-Erzählerin in Carolina Schuttis Roman Der Himmel ist ein kleiner Kreis (erschienen im Literaturverlag Droschl 2021) vom medizinischen Personal einer Psychiatriestation bombardiert, wenn sie einen ihrer Aggressionsausbrüche hat. Als Leserin ist man schnell versucht, dem zu widersprechen: „Nein, ist es nicht! Es ist nicht genug, und es wird auch nie genug sein.“ Denn die verzweifelte Wut, von der die Protagonistinnen in dem Roman getrieben sind, ihr leidenschaftliches und gleichzeitig leidvolles Aufbegehren gegen ein Leben, das sie einsperrt, begrenzt, ungehört und ungesehen verlassen sein lässt, sind unstillbar.

Aus den Perspektiven zweier unterschiedlicher Frauenfiguren, die im Laufe des Romans auf subtile Art und Weise immer mehr ineinander verschmelzen, erzählt die vielfach ausgezeichnete österreichische Schriftstellerin Carolina Schutti, die 2020 zum Bachmannpreis eingeladen war, einerseits von einer Frau, die aufgrund grauenhafter, im Dunkeln bleibender Erlebnisse in der Vergangenheit fast vollständig verstummt ist. Aufgenommen in die Psychiatrie widersetzt sie sich allen Behandlungsversuchen und fühlt sich einzig mit Mark einigermaßen vertraut, einem anderen Psychiatrieinsassen, der nun aber entlassen werden soll. Eine frühere Leidenschaft der Frau galt offensichtlich dem Bootsbau, an dessen Tätigkeit und verwendete Materialien die Schriftstellerin sie in sinnlichen, nahezu greifbar physisch werdenden Sätzen und Szenen denken lässt.

Auf der anderen Seite schildert Carolina Schuttis „Kreis-Himmel“ die Erlebniswelt von Ina, einer kühnen, nach Freiheit strebenden Frau, die in die Fremde gezogen ist, möglicherweise, um das Fürchten zu lernen: Sie will in Sibirien eine Raststätte betreiben – ein Plan, den sie aber nicht in die Tat umsetzen kann, weil sie in die Fänge eines mysteriösen Lastwagenfahrers gerät, der sie zu seiner Assistentin ernennt. In seiner Abwesenheit, die nur ein paar Tage währen soll, sich dann aber auf unerwartete und beängstigende Weise immer weiter verlängert, hat Ina die Aufgabe, auf eine Art verlassenes Fabrikgelände aufzupassen. Sinn und Zweck dieser Aufgabe bleiben genauso verrätselt wie die Figur ihres Auftraggebers, was dem Text eine gewisse märchenhafte Tiefe, eine Zeit- und Raumlosigkeit verleiht, die ihn immun macht gegen Interpretationsversuche, die sich an einem wie auch immer verstandenen Realismus orientieren. Wenn man es so sehen möchte, findet man in dem Roman auch mindestens eine selbstreferentielle Schlüsselszene dazu:

Was macht ein Märchen aus? Das schonungslose Aufeinanderprallen von Schatten und Licht, die Tatsache, dass man sich mühelos von einer in eine andere Welt begeben kann, weiß man nur den richtigen Spruch, dass einem Flügel wachsen, wenn man sie braucht? Dass es in allen Ecken wispert und zirpt, dass Öfen Füße bekommen, der Frost ein Gesicht? Oder ist es vielmehr die Gewissheit eines guten Ausgangs, der jedem Anfang bereits eingeschrieben ist?

Zumindest der letzte Punkt trifft nicht auf Carolina Schuttis Text zu, der von Beginn an und durchgängig einen alptraumartigen Charakter hat in dem Sinne, dass eben das eine nicht möglich scheint: ein irgendwie gearteter guter Ausgang.

Dass der Roman dabei nicht übermäßig konstruiert und artistisch wirkt, sondern dass er im Gegenteil mit großer Vorstellungskraft und auf eigentümlich feinfühlige und poetische, präzise beobachtende und beschreibende Art und Weise die Sinne der Leser*innen ergreift und für sich vereinnahmt, ist Carolina Schuttis Kunst: Ihr Schreiben erinnert in seinem synästhetischen Geflochtensein, in seinem Aneinanderreihen von Sinneswahrnehmungen und Gedanken an die Bewusstseinsströme einer Virginia Woolf in Die Wellen – transportiert und transformiert natürlich in einen Text des 21. Jahrhunderts. In einer der vielen stilistisch und erzählerisch bemerkenswerten Stellen verwandelt sich die Ich-Erzählerin in der Psychiatrie organisch und darin nicht zu hinterfragend in einen seltsamen Fisch, der durch die Gänge des Krankenhauses schwimmt:

Ich bin ein Lungenfisch in einem schleimigen Kokon, tief im harten Lehm vergraben, auf den eine erbarmungslose Sonne brennt, bis sich irgendwann der Himmel verdunkelt, bis sich die in rasender Geschwindigkeit auftürmenden Wolken mit Gebrüll entladen. (…)

Ich verstecke mich unter meterhohen Wasserpflanzen, hinter algenbewachsenen Steinen, das Wasser ist eiskalt, mein Nackenschild erstarrt, seine Löcher beginnen sich zu schließen, mein weißes Gesicht ist unter der bewegten Wasseroberfläche nicht mehr auszumachen.“

Dank an Ulrike Schrimpf (Foto S. Hermann & F. Richter)

  • Carolina Schutti: Der Himmel ist ein kleiner Kreis. Graz: Literaturverlag Droschl 2021. 152 Seiten, gebunden. 19 Euro. E-Book 15,99 Euro.

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s