
Es ist schon erstaunlich, wenn man bedenkt, wie lange Rainer Maria Rilkes Gedicht Der Panther überdauert hat, nur um viele, viele, viele Jahre später nicht nur Marica Bodrožić, sondern etlichen weiteren Menschen Trost und Zuflucht zu bieten.
In einer Zeit, in der wir beides gleichsam im Übermaß gebrauchen können. Und auch danach.
Anfang April, etwas länger als ein Jahr seit Beginn der Pandemie in Europa, durfte ich mit der deutschen Schriftstellerin Marica Bodrožić über ihren Hoffnung und Mut spendenden und überaus gelungenen Essay Pantherzeit – Vom Innenmaß der Dinge sprechen, der in diesem Februar im Otto Müller Verlag erschienen ist.
Anna Herzig im Gespräch mit Marica Bodrožić
Liebe Marica Bodrožić, wer waren Sie vor Rilke und wer danach?
Es gibt eigentlich keinen Zustand vor oder nach Rilke für mich. Es gibt für mich seit langem nur ein Sein und Werden mit Rilke. Als meine Tochter wenige Monate alt war, ließ sie sich einmal in einem schlimmen Tränenanfall nur mit Gedichten von Rilke beruhigen; weil sie so hilflos war, wusste ich nicht weiter und griff gleichsam von allein nach Rilkes Gedichten. Sofort hörte mein Kind zu und hörte auf zu weinen. Und als die Corona-Pandemie den Atem der Welt anhielt, kamen Rilkes Gedichte und seine tiefe Gedankenwelt, vor allem sein sprungbereiter Panther, ganz allein zu mir und in mein inneres Leben. So hat sein Geist sich mit meiner Sprache verbunden und mich zu diesem Buch inspiriert, das ich wohl nur unter diesen Bedingungen habe schreiben können.
Was würde alles für Sie bedeuten, wenn alles nichts mehr bedeutet?
Das Leben selbst ist alles, was wir haben. Es gibt nichts auf der Welt, das wir wirklich besitzen können. Und wenn wir nichts mehr haben können, müssen wir das sein, was wir sind. Das ist die Bedeutung von allem, was heilig ist, und zwar in Verbindung mit anderen Menschen, ohne die unser Leben nicht nur leer, sondern durchweg sinnlos wäre.
Haben Sie den Drang oder den Wunsch Ihrer Tochter zu erklären, was in der Welt vorgeht?
Nein, das habe ich irgendwie nicht. Ich glaube, das liegt daran, dass sie die Welt an sich für mich ist und dass ich sie beschützen möchte. Gleichwohl stellt sie Fragen oder sagt, „ich mag diese Makse nicht“ (sie kann schon lange Maske sagen, spielt aber mit dem Wort) – oder: „bitte setze die Makse ab“. Dann sage ich ihr, dass ich sie noch tragen muss, bis wir in der Wohnung sind, also ich bleibe ehrlich. Aber grundsätzlich ist ein Kind in ihrem Alter, sie ist zweieinhalb Jahre alt, so gegenwärtig, so fordernd mit all seinen Bedürfnissen, dass sich das Erklären nicht als modus vivendi anbietet. Interessanterweise ist es aber immer das Erzählen. Und das finde ich sehr faszinierend. Das Konkrete, an das Erlebbare gebundene Leben begreift sie sofort und sie erinnert sich – an alles.
Wie lange haben Sie an der „Pantherzeit“ geschrieben? Unterlag der Text wesentlichen, Lektorats-bedingten Kürzungen oder lesen wir in etwa den Originalumfang?
Ich habe im März 2020 mit dem Schreiben begonnen und bis Juni jeden Tag am Text gearbeitet, also täglich geschrieben. Mir war es wichtig, einen Essay an der Zeit entlang zu verfassen. Ich war dabei von der Vorstellung geleitet, dass der Text auch in zehn, zwanzig Jahren jemandem verständlich sein sollte, der sich menschlich zu unserer Zeit in Beziehung setzt, so wie ich mich zu Lidia Ginsburgs Aufzeichnungen aus dem belagerten Leningrad in Beziehung setzen konnte. Ich habe im Lektoratsprozess einige kleine Passagen wie die zum Schlangenritual von Aby Warburg dazugeschrieben, das schien mir wichtig, da der ethnologische Blick mich die ganze Zeit geleitet hat und mir ja auch eine Art Selbstenthnographie vorschwebte, da sind ja solche Leute wie Aby Warburg, Claude Lévi-Strauss oder Michel Leiris Magnetfelder in meinem Denken.
Ist das konkrete Wahrnehmen der eigenen Innerlichkeit ein erstrebenswerter Zustand oder eine Notwendigkeit, die vor dem Außen schützt?
Es ist irgendwie beides, aber ich suche in dem Sinne nicht die Innerlichkeit an sich, sondern das innere Leben jenseits irgendeiner Romantisierung. Es gibt nichts, das mehr herausfordert, als sich selbst sehen zu lernen. Und dieses Suchen meint im Grunde sehr genau sehen. Das Sehen verändert das Gegebene bzw. meinen Umgang damit. Was ich sehe, sieht auch mich. Dadurch bin ich geschützt vor der Gewalt der Außenwelt, aber nur im Sinne von: Ich erkenne sie, muss ihr also nicht erliegen, doch damit allein schaffe ich sie nicht aus der Außenwelt. In meinem Inneren ist natürlich viel Landschaft für das Weite im Geistigen. Und auf Dauer ist das ja auch Welt oder wird zu ihr, weil ich ja als Mensch in der Welt lebe und Berührungen eine Wirkung entfalten. Die Pantherzeit hat mich gelehrt, dass wir immer nur im Werden sind. Es gibt kein abgeschlossenes und auch kein abgesichertes Sein.
DER PANTHER (Rainer Maria Rilke, 1902/03)
IM JARDIN DES PLANTES, PARIS
Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.
Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.
Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.
Arbeiten Sie aktuell an neuen, weiteren Projekten?
Ich arbeite seit fünf Jahren an einem hybriden Prosaprojekt und beende es gerade. Ohne es beschlossen zu haben, denke ich seit geraumer Zeit in meinem Schreiben viel in Elementen. Mein Roman Das Wasser unserer Träume war ganz mit dem Fließenden verbunden, die Pantherzeit mit der Luft. Und das neue Buch, das im nächsten Frühling erscheinen wird, hat sich der Erde angenommen – und dafür bin ich sogar im vierten Monat meiner Schwangerschaft in die Pyrenäen gegangen, habe mich in einem kalten Februar auf den Fluchtweg, der Walter Benjamins letzter Weg auf Erden war, begeben und der ist in meinem Buch mein Denk- und Erzählweg geworden.
Was können wir aus dem vergangenen Jahr lernen?
Alles verwandelt sich, es gibt keine Sicherheiten. Nur in den aufrichtigen Beziehungen und in der inneren ethischen Ausrichtung können wir uns erden und von dort etwas Neues in die Welt geben und vor allem: die Welt für uns und andere sein, die wir uns im Außen wünschen.
Wie sollten wir dem kommenden Jahr begegnen?
Ich selbst freue mich auf alle Umarmungen, die hoffentlich bald wieder möglich sein werden. Auch glaube ich, dass jeder von uns in dieser fordernden Zeit etwas Spezifisches gelernt hat. Sich an das Gelernte zu erinnern, ist wichtig, damit würdigen wir uns selbst und warten nicht darauf, dass andere das tun. Ich glaube zudem, dass es von enormer Bedeutung ist, ehrlich zu leben und sich in allem treu zu bleiben. Diese Ehrlichkeit hat eine tiefe Kraft. Auch ist sie mit der Gnade verbunden, von der Simone Weil sagt, dass sie erst dann zum Tragen kommt, wenn wir unsere Kontrolle und unsere Wünsche aufgeben. Das ist schwer. Es ist aber auch schön. Es ist beides. Und das kann einen verrückt machen und zeitgleich beglücken. Das ist wohl vor allem das, was ich selbst für dieses Jahr als Lebensessenz in mir trage. Und an das ich mich für immer erinnern möchte.//
Marica Bodrožić gelingt es in Pantherzeit, uns liebevoll, reflektiert und behutsam an all das zu erinnern, was es in und um uns zu schützen gilt. Man kann nur erahnen, wie weit sich der wunderschöne Kosmos ihres Innenlebens erstreckt.
Herzlichen Dank an Marica Bodrožić und Anna Herzig für das schöne Gespräch und alles Gute!
- Marica Bodrožić: Pantherzeit – Vom Innenmaß der Dinge. Salzburg: Otto Müller Verlag 2021. 264 Seiten, gebunden. 22 Euro. E-Book 18 Euro
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