Vicente Valero: Schachnovellen (Berenberg Verlag)

„Wie die Schachgroßmeister seit jeher sagen: Es ist und bleibt ein Geheimnis, wohin eine Partie führen kann.“ Dieses Zitat taucht in allen vier Novellen auf, es verbindet die Texte des 1963 auf Ibiza geborenen und auch dort lebenden Autors Vicente Valero. Er reist darin an verschiedene Orte in Europa, verfolgt die Spuren von fünf Geistesgrößen, die allesamt Schachspieler sind.

Die erste Erzählung ist in Dänemark angesiedelt. Valero fährt im Jahr 2013 dorthin, um den Maler Jorge Castillo zu besuchen. Die beiden widmen sich nächtelang dem Schach. Aus dem Nichts taucht nach einer Partie ein Foto vor Valeros Augen auf: Walter Benjamin und Bertolt Brecht 1934 beim Spiel in Brechts Exil in Svendborg. Spontan macht sich Valero auf den Weg in die Kleinstadt. Lebhaft beschreibt er die Eindrücke seiner Reise und kombiniert sie mit einem Einblick in ein Stück deutscher Literaturgeschichte. In wenigen, aber sehr fundierten Sätzen charakterisiert er die beiden. Er kommt auch auf Kafka zu sprechen (Benjamin schrieb in Svendborg an einem Essay über den Dichter), er spricht über Hitler und den Faschismus, macht einen kleinen Abstecher in die Geschichte der Malerei, um schließlich wieder bei Jorge Castillo und dessen Schneebildern zu enden. Hier schließt sich der Kreis, denn Castillos Lieblingsprosa von Kafka ist der Text Die Bäume.

In seiner zweiten Novelle fährt Valero nach Turin, wo er den Spuren Nietzsches folgt, Freundschaft mit einem schachspielenden und belesenen Ehepaar schließt und tiefe Einsichten in Nietzsches Geisteswelt gewinnt. Die dritte Geschichte führt nach München und zu Franz Kafka, die vierte nach Zürich und zu Rainer Maria Rilke.

In allen Novellen steht der Versuch im Mittelpunkt, zum Kern der Dichtung oder der Philosophie des Protagonisten vorzudringen. Immer wieder ausgehend vom Schach selbst oder einer Begegnung mit Spielern begibt sich Valero auf die Spurensuche europäischen Denkens. Er erkundet die Dichter wie auch die Verbindungslinien zwischen den Künstlern, die sich an einem Ort begegneten, die übereinander schrieben, die in einem geistesgeschichtlichen Zusammenhang stehen.

Vicente Valero schreibt in seinen jeweils kaum mehr als dreißig Seiten umfassenden Novellen vom Wesenskern des Schach, der Literatur, der Malerei, der Philosophie. Er verknüpft diese Überlegungen mit seinen persönlichen Erlebnissen, Gewohnheiten und Zufällen, den Gedanken und Eindrücken seiner Reisen – bis hin zum Essen. Das verleiht seinen Texten Bodenhaftung und zugleich Leichtigkeit und Lebendigkeit.

„Es ist und bleibt ein Geheimnis, wohin eine Partie führen kann“ – dies gilt ebenso für das Reisen. Vicente Valero verwandelt seine Passion für das Schachspiel, die Literatur und das Reisen in feine Texte, die den Horizont weiten.

Dank an Petra Lohrmann (Foto Leonhard Niederwimmer)

  • Vicente Valero: Schachnovellen. Aus dem Spanischen übertragen von Peter Kultzen. Berlin: Berenberg Verlag 2021. 128 Seiten, Halbleinen. 22 Euro. E-Book 16,99 Euro.

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