Georg Thiel: Die Natur der Dinge (Braumüller Verlag)

Dass der österreichische Schriftsteller und Kurator Georg Thiel ein Meister darin ist, in seinen Romanen die Vergangenheit mit der Gegenwart zu verquicken, dunkle Kapitel der Geschichte mit irr- und aberwitzigen heutigen Lebensläufen zu verbinden, liegt spätestens seit Erscheinen seines Romans Jud (Braumüller Verlag 2018) auf der Hand: In dem Buch mit dem durchaus – nicht nur marketingtechnisch – mutigen Titel widmet sich Thiel anhand des Einzelschicksals von Titus, einem mäßig erfolgreichen Fotografen, der österreichischen Vergangenheit im Nationalsozialismus und erzählt gleichzeitig eine streckenweise rasend komische Geschichte darüber, wie Titus nach Brüssel reist, um dort von der Weltausstellung zu berichten.

In seinem aktuellen Roman nun, Die Natur der Dinge (ebenfalls im Braumüller Verlag erscheinen), der sich anstatt in Kapitel in „Wahrnehmungen“ gliedert, erzählt der Schriftsteller von dem beispielhaft mediokren, trostlosen Leben Heinrichs, der eine miserable Kindheit mit einem verhärteten Kriegsheimkehrer-Vater hinter sich hat und später eine wenig rühmliche Karriere in einem Rüstungskonzern macht. Gefangen in einer freud- und lieblosen Ehe mit Isolde lebt er mit ihr und seinen Schwiegereltern in deren heruntergekommener Villa. Natürlich ist auch Isolde – allein der Name spricht Bände – erschreckend reizlos:

Als Isolde zurückkam, war Heinrich leicht illuminiert. Wenn er ehrlich ist, erschien sie ihm auch in diesem Zustand nicht rasend begehrenswert. Er weiß noch bis ins letzte Detail, wie sie an diesem Tag ausgesehen hat. Ein Haarreifen aus Schildpatt, der das ranzigblonde dünne Haar fest an den Kopf gepresst hielt. Ein graues Tweedkostüm mit knöchellangem Rock. Farblich nicht dazu passende braune Strümpfe, ebensolche Schuhe. Große Schuhe.

Auch Heinrichs Schwiegervater hat unansehnliche Leichen im Keller: Er machte einst Geschäfte mit der SS und diversen arabischen Diktatoren. Da das Einbauen eines Treppenlifts für die Schwiegermutter Umbauarbeiten im Haus erfordert, wird Heinrich von ihr und seiner Gattin gezwungen, an einem Gratiskurs in „Autobiographischem Schreiben“ teilzunehmen. Dieser stellt sein Leben zunächst nur vorübergehend, dann aber auch endgültig auf den Kopf. Allein dieser Kunstgriff Thiels ist genial: Die kleine, diverse Gruppe von unterschiedlichen Kursteilnehmer*innen, angeleitet von einem minder erfolgreichen Schriftsteller, der standesgemäß am Hungertuch nagt, birgt eine Fülle von komischem Potenzial in sich, das Thiel scharfzüngig und klarsichtig ausschöpft. Was habe ich gelacht beim Lesen! Allein das ist ein besonderes Geschenk.

Die kluge, auch belesene Ironie, die den Roman durchdringt, ein gewisser Thiel-typischer trockener Witz, der sich trotz all seiner Nähe zum schwarzen Humor nie nur zynisch gibt, heben das erzählte Leid, auch die stellenweise geschilderte Grausamkeit und Brutalität in eine erträgliche und – man mag es kaum glauben – auch amüsante Höhe. Dabei ist der Schriftsteller unverkennbar von Thomas Bernhards bärbeißigem und gleichzeitig intellektuellem Weltengrimm geprägt – er stellt dem Roman ein Zitat des Autors voran und durchflicht ihn mit intertextuellen Verweisen auf sein Werk –, aber es gelingt Thiel trotz dieser Nähe, die allen Bernhard-Liebhaber*innen Freude bereiten wird, sich von ihm zu emanzipieren und seinen eigenen Klang und Stoff zu erschaffen.

Schreibt der Schriftsteller dem aktuellen Geschehen des Romans in dem Schreibkurs einerseits komische Szenen ein, so ist die Schilderung der Vergangenheit, die Thiel Heinrich selbst anhand der verschiedenen im Kurs gestellten Aufgaben entfalten lässt, teilweise von so furchtbaren, eindringlich gestalteten Szenen geprägt, dass sie im wahrsten Sinne des Wortes unter die Haut gehen, und es schwer sein wird, sie wieder zu vergessen: so etwa die Heimkehr von Heinrichs Vater aus der russischen Kriegsgefangenschaft, so aber auch zum Beispiel eine Szene, in der der Chef des Rüstungskonzerns, in dem Heinrich arbeitet, von ihm verlangt, sich zunächst mit einem Hundewelpen anzufreunden und ihn dann aus dem Fenster zu schleudern, um sich seines blinden Gehorsams zu versichern. Dass Heinrich sich hier trotz seines ersten authentischen Instinkts, den Befehl nicht zu befolgen, dem unmenschlichen Handeln letztlich nicht verweigert, ist symptomatisch für sein Wesen und sein Leben: Thiel schildert ihn als einen moralisch schwachen Mitläufer, der sich vom Leben hin- und herwerfen lässt, der aber in bestimmten Momenten auch nicht frei ist von einer gewissen Klarsicht und einer Sehnsucht nach Veränderung.

Thiels Sprache ist im gesamten Roman wohl durchdacht und sorgfältig, auch rhythmisch gearbeitet. Er hat, in diesem Punkt wiederum durchaus nahe an Bernhard, eine Vorliebe für zugespitzte, pointierte Formulierungen und altmodisch klingende Begriffe, schreibt dabei bewunderungswürdig elegant und klar – kaum jemals steht ein Wort zu viel oder an der falschen Stelle.

Dank an Ulrike Schrimpf

  • Georg Thiel: Die Natur der Dinge. Wien: Braumüller Verlag 2020. 224 Seiten, gebunden. 22 Euro.

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