
Das Leben hält so manchen Abgrund bereit. „So etwas kann man sich nicht ausdenken“ heißt es oft, wenn er sich dort auftut, wo man ihn in der Regel am wenigsten erwartet. Die argentinische Schriftstellerin Claudia Piñeiro aber ist eine, die das kann – und auf die Spitze treibt. Das belegt ihr eben im Schweizer Unionsverlag erschienener Erzählband Wer nicht?.
Geschickt, fast beiläufig, startet Piñeiro mit ihren Leserinnen und Lesern in alltäglichen Szenen, um sie wenige Seiten später in extreme Situationen zu versetzen. Da ist die Frau, die gerade das Gepäck ihres soeben auf einer Flugreise verstorbenen Mannes zurückerhält: „Fabián war in Chile lebend an Bord gegangen und in Argentinien tot herausgetragen worden“, beim Ausräumen der Koffer gesellt sich zur Trauer der Witwe die unerwartete Gewissheit, dass ihr Mann über viele Jahre ein Doppelleben geführt haben muss.
In einer anderen Geschichte begegnen wir einem frisch geschiedenen Vater ohne feste Adresse, der gezwungen ist, eine Wohnung des Maklerbüros zu beziehen, für das er arbeitet, um einen Kindergeburtstag auszurichten. „Als er mit den Kindern gerade einfach so, wie sie sind – barfuß und im Schlafanzug –, losgehen will, hört er, dass jemand einen Schlüssel ins Schloss der Wohnungstür steckt.“
Oder da ist die Geschichte einer schmerzhaften Komplizenschaft zwischen Müttern und Töchtern: „Sie hat vom Zuschauen gelernt, bei ihrer Großmutter. Und so hat sie es auch heute gemacht, genau wie in ihrer Erinnerung.“ Erst gegen Ende der Geschichte dämmert es einem, dass der rote Schicksalsfaden die selbst herbeigeführten Abtreibungen sind. Bis heute gibt es in Argentinien keine legale Möglichkeit zum Schwangerschaftsabbruch, was Piñeiro mehrfach öffentlich kritisiert hat.
Bei aller Tragik, die so mancher der sechzehn Kurzgeschichten innewohnt, stößt man über die Seiten auch auf so etwas wie Leseglück. Dieses besteht in der gelungenen Verbindung zwischen außergewöhnlichem Inhalt und einem telegrammartigen Stil, der mit wenigen Wörtern komplexe Szenen zu erschaffen vermag. Hinter den schnörkellosen Sätzen, die von Peter Kultzen ins Deutsche übersetzt wurden, werden kraftvolle Imagination und sorgfältige Beobachtung einer Autorin offenbar, die erst spät debütierte.
Claudia Piñeiro avancierte in den letzten Jahren im Senkrechtstart zum Star der argentinischen Literaturszene und zeigt dort mannigfaltig, dass sie nicht nur das kurze Genre beherrscht. Von ihr findet man Theaterstücke, Kinder- und Jugendbücher und – wenig verwunderlich – Kriminalromane. Alle Werke einend ist der stete Bezug zu ihrem Heimatland. Ins Programm des Unionsverlages passt sie damit trefflich. Denn es gibt kaum eine bessere Adresse, um Literatur und Länder jenseits des außereuropäischen Horizonts kennenzulernen – nicht nur, aber vor allem in Zeiten wie diesen auch eine der besten Formen zu reisen.
Dank an Lucia Schöllhuber
- Claudia Piñeiro: Wer nicht? Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. Zürich: Unionsverlag 2020. 192 Seiten, englische Broschur. 19 Euro.