Auf der Hotlist 2020: Michael Palin: Erebus (mareverlag)

„Don’t judge a book by its cover“, heißt es so schön im Englischen. Damit sind zwar Menschen und keine Bücher gemeint, aber man kann diese Metapher auch wörtlich nehmen. Beim Blick auf das Cover von Michael Palins Erebus, auf dem zur Freude des Verlags schnell der Aufkleber „Spiegel Bestseller“ angebracht werden konnte, fühlt man sich an ein Jugendbuch aus den 1970er-Jahren erinnert. Der mareverlag hat das Covermotiv von der englischen, 2019 bei Penguin erschienenen Originalausgabe adaptiert, das klassisch aussieht, weil die Proportionen von Bildausschnitt, Autorenname und Titel stimmen.

Buchhändler stehen vor der Frage, wo einsortieren: Jugendbuch, oder doch lieber Sachbuch? Ist das Buch aber erst einmal zum Leser gekommen und aufgeschlagen, macht man es so schnell nicht wieder zu. Michael Palin, 1943 in Sheffield geboren, war einst Mitglied der britischen Komikertruppe Monty Python, aber auch drei Jahre lang Präsident der Royal Geographic Society und schon immer von der Seefahrt fasziniert. Nun hat er ein penibel recherchiertes und locker erzähltes Geschichtsbuch über die „Erebus“ geschrieben, ein Kriegsschiff des Empires, das für den Krieg zu spät kam, aber eine neue Bestimmung fand, als seine Tauglichkeit für Fahrten ins Eismeer erkannt wurde. Zusammen mit ihrem Schwesterschiff „Terror“ wurde die Bombarde für wissenschaftliche Erkundungsfahrten in Antarktis und Arktis eingesetzt.

Palins Buch beginnt mit der zufälligen Entdeckung des Wracks der „Erebus“ vor wenigen Jahren, erzählt vom Bau des Schiffs und wendet sich dann schnell dessen Fahrten und den Männern zu, die auf ihm durch die Weltmeere reisten, um die Vermessung der Erde an ihren unwirtlichsten Orten zum Abschluss zu bringen. Palin skizziert Psychogramme der Kapitäne, Offiziere und Naturwissenschaftler an Bord. Sie lebten zu einer Zeit, als aus Forschern Helden werden konnten, weil die Weltöffentlichkeit begeistert vom menschlichen Entdecker- und Pioniergeist jenen wagemutigen Männern zujubelten, die der Natur trotzten und der Erde ihre letzten Geheimnisse entlockten.

Palin zeigt Einfühlungsvermögen und einen psychologischen Blick, wenn er aus den Tagebüchern der Männer und ihren Briefen, aber auch aus den Korrespondenzen von Ehefrauen oder Ladies zitiert, die an weit entfernten Orten die Fahne des Königreichs hochhalten und sich über festliche Gesellschaften mit den Forschern erfreuen. So einfühlsam er ist, so distanziert zeigt sich der Autor seinen Forschungsgegenständen gegenüber, indem er ihre Mentalität von heute aus bewertet. So attestiert er Leuten, die vor langer Zeit lebten, Mangel an Gerechtigkeitssinn, Überheblichkeit und Unwissen über das, was sie noch nicht wissen konnten, oder zumindest nicht für wichtig erachten mussten. Denn diese Forscher und Eroberer wussten den Zeitgeist mit sich, wenn sie die Welt als wissenschaftlichen Gegenstand, vor allem aber als auszubeutende Ressource betrachteten. Der Kapitalismus trat damals in eine Phase ein, in der er seine Gier nach Rohstoffen buchstäblich über die ganze Welt ausdehnte und niemand auf den Gedanken kam, dass die natürlichen Ressourcen der Regeneration bedürfen, dass sie nicht unendlich sind.

Der unternehmerische Geist dieser Männer ist durch und durch protestantisch, von Fleiß, Strebsamkeit und Disziplin bestimmt, dabei handeln sie im sicheren Gefühl, Gottes Willen zu gehorchen, wenn sie sich die Erde untertan machten. Das Unternehmertum geht dabei dem Forschergeist voraus. Denn dort, wo die „Erebus“ hinfährt, waren vorher schon die Schiffe der Walfänger umhergekreuzt, auf der Suche nach dem wertvollen Rohstoff, der die europäischen Stuben des Nachts erleuchtete.

Die Forscher befassen sich auch mit magnetischen Messungen, das interessiert die britische Marine, weil man als die Weltmeere beherrschendes Empire noch präziser navigieren will. Und so brechen „Erebus“ und „Terror“ immer neue Rekorde. Kein Segelschiff kam je weiter nach Süden als die beiden Schiffe, als sie sich am 23. Februar 1828 entlang der Küste und der großen Eisbarriere der Antarktis bewegten. Die Antarktis-Expedition ist erfolgreich, die Reise in die Arktis endet tragisch. Ein schönes Buch. Wer es lesen möchte, muss allerdings der Liebe zum Detail zugeneigt sein.

Dank an Ulrich Gutmair
(Foto Angie Agostino)
 

  • Michael Palin: Erebus. Ein Schiff, zwei Fahrten und das weltweit größte Rätsel auf See. Aus dem Englischen von Rudolf Mast. Hamburg: mareverlag 2020. 400 Seiten, gebunden, mit zahlreichen Abbildungen. 28 Euro.

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