Hotlistkandidat 2020! Marga Minco: Das bittere Kraut (Arco Verlag)

Wenn Hundertjährige auf eine Zeit zurückblicken, die sonst niemand mehr aus der Familie miterlebt hat, so scheint das in der Natur der Sache zu liegen. Doch Marga Minco, die im März dieses Jahres das dreistellige Jubiläum feierte, war bereits mit Mitte Zwanzig die letzte Überlebende ihrer Familie. Bis auf einen Onkel, den die Heirat mit einer Nicht-Jüdin rettete, haben die Nazis ihre gesamte Familie ausgelöscht.

Das bittere Kraut, als Übersetzung aus dem Niederländischen im Arco Verlag erschienen, erzählt davon. Die „kleine Chronik“ – so der Untertitel des Buches – setzt 1940 in der Kleinstadt Breda ein. Dort lebte Minco mit ihrer Familie, als die Deutschen begannen, die Niederlande zu besetzen. Unvorstellbar erschien es zu diesem Zeitpunkt, dass sie die jüdische Bevölkerung auch bald verfolgen würden. Selbst als Soldaten der Besatzungstruppen immer mehr das Straßenbild bestimmen, beschwichtigt der Vater: „Sie tun uns nichts.“

Doch der Antisemitismus kam natürlich nicht erst mit dem Einmarsch der Nazis in das Land. Die Erzählerin, die nie beim Namen genannt wird, aber in 22 Kapiteln fraglos die Geschichte der Autorin erzählt, erinnert sich an Feindseligkeiten in der Schulzeit – den guten Glauben trübte das in ihrer Familie längst nicht. Als der Vater Davidsterne nach Hause bringt, die es ab dem nächsten Tag gut sichtbar auf der Kleidung angebracht zu tragen gilt, drehen sich die Gespräche vor allem darum, wie sie wohl am besten an den Mänteln angenäht werden und wer am geschicktesten darin ist.

Dennoch schleicht sich die Bedrohung zunehmend zwischen die Zeilen. Immer mehr Bekannte tauchen unter, andere kommen bereits, um sich zu bereichern. Das Nachbarsmädchen macht keinen Hehl aus der Situation, als es verstohlen über den Gartenzaun hinweg nach dem Tennisschläger fragt: „Ist doch schade, wenn er im Schrank bleibt, und vorläufig wird es bei euch doch nichts mit dem Tennisspielen.“ Der Vater bewahrt auch dann noch seinen Optimismus, als die ältere Schwester bereits verschwunden und er selbst mit der Mutter nach einer Razzia ins Ghetto nach Amsterdam übersiedeln muss: „Das wird eine große Kille [Gemeinde] werden.“

Eines Abends werden die Eltern dort von den Deutschen festgenommen. Minco, die gerade bei ihnen ist, schafft es, rechtzeitig zu fliehen. Eine Zeit ohnmächtiger Schuldgefühle und ein rastloses Leben in wechselnden Verstecken bricht an und bestimmt das Geschehen in den folgenden Kapiteln. Und auch das Weiterleben, wie der Nachklang des Buches erahnen lässt.

Denn der klare und reduzierte Stil der Autorin, der völlig ohne Pathos und Psychologisierung auskommt, bewirkt nicht zuletzt eine Eindringlichkeit, die einen mit dem dumpfen Wissen zurücklässt, dass ein Schicksal, wie das beschriebene, einen Schatten über das ganze restliche Leben zu werfen vermag, der kaum Raum für Hoffnung lässt. Der Onkel zerbricht daran. Für Minco, die mit Das bittere Kraut 1953 ihren Debütroman vorlegte, wird dieser bestimmend für ihr weiteres Werk.

Für dieses wurde sie im vergangenen Jahr mit dem P.C.-Hooft-Preis ausgezeichnet. Die 26 Titel ihres Gesamtwerks, das in zwanzig Sprachen übersetzt wurde, eint durchgängig die Schmalheit der Bücher – deren Beredsamkeit gerade darin besteht, dass es dort kein Wort zu viel gibt. So bleiben auch in Das bittere Kraut die Deutschen gänzlich unerwähnt. In einem Interview sagte Minco einmal, dass sie dieses Wort seit 1957 nicht mehr aus ihrer Feder bekommen könne.

Umso wichtiger ist es, dass ihr Œuvre Jahrzehnte nach dem Erscheinen in den Niederlanden nun auch hier zugänglich wird. Im Arco Verlag, in dem jüdische Autorinnen und Autoren seit bald zwanzig Jahren ihren festen Platz im Programm haben, erscheinen in diesem Jahr gleich drei Bände der Autorin. Es lohnt sich, dieser Stimme, die auch einer der letzten Zeitzeuginnen einer unmenschlichen Zeit gehört, noch einmal ganz genau zuzuhören.

Dank an Lucia Schöllhuber

 

  • Marga Minco: Das bittere Kraut. Aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas. Wuppertal: Arco Verlag 2020. 96 Seiten, gebunden. 18 Euro.

 

 

 

 

 

 

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