Das Verstummen erzählen
Was, wenn die Worte fehlen? Wenn man sich in einer Gegenwart befindet, die weder Vergangenheit noch Zukunft erzählen kann und somit dem Narrativ seine (Un)möglichkeiten nimmt? Was, wenn wir das, was um uns geschieht, was wir täglich sehen, nicht mehr beschreiben können? Das Bild ist instabil. Es flackert. Wir bewegen uns in ihm. Wir können es nicht fassen. Sehen trotzdem genauer hin. Sehen auf den Globus, machen das Licht an, die Welt bleibt finster.
Finster manch Blick, der das Jetzt betrachtet und davon spricht, dass wir in einer Dystopie angekommen sind. Sind wir nicht, an diesem wörtlich schlechten Ort, der ausschließlich auf Zukünftiges ausgerichtet ist und immer in sicherer Distanz zum Jetzt verweilt. Ein stiller Schwebezustand ist die Dystopie, das In-Worte-Kleiden einer Ahnung. Auch erzählt sie das Verstummen.
Ich muss an Anna Kavans Roman Ice (1967) denken. Die Welt ist nach einem Atomkrieg in eisiger Apokalypse gefangen. Das Eis breitet sich auf der Erdoberfläche aus, kaum noch gibt es Orte, an die man flüchten könnte. Ein Mann, der Erzähler der Geschichte, sucht nach einer namenlosen Frau, die ihm zur Obsession geworden ist. In Kavans Text muss man sich einer surrealistischen Welt öffnen, die immer enger und auswegloser wird, einem Traum, der zur Grenzerfahrung wird. Die bedrohliche Kälte überschattet alles. Alles ist verloren. Alles ist im Eis verstummt.
Ich muss an Stanisław Lems Der Futurologische Kongreß (1971) denken. Die Geschichte folgt dem Raumfahrer Tichy, der zu einem Kongress zum Thema wachsender Überbevölkerung geladen ist. Chemische Mittel setzen die Teilnehmer unter Drogen, im Falle Tichys kommt es sogar so weit, dass die Substanzen seinen Körper zerfressen und er in Tiefschlaf versetzt werden muss. In unbestimmter Zukunft wacht er wieder auf und findet eine neue Welt vor. Es herrscht Frieden und Wohlstand, Tote können auf Wunsch wieder zum Leben erweckt werden. Auch in Lems Erzählung spielt das Traumhafte eine zentrale Rolle.
Sowohl Kavans Ice als auch Lems Futurologischer Kongreß sind mutige und ausgesprochen surreale Texte, die Ahnungen über eine mögliche Zukunft in sich tragen und sie erzählen, so glaube ich, nah an der Traumebene Geschichten über das Verstummen.
Ein Verstummen andrer Art erzählt Cormac McCarthys Die Straße (2006), in der ein Mann mit seinem Sohn unterwegs ist, um zu erleben. Um zu sterben in einer dunklen Welt, die untergegangen ist. Hier, in dieser beeindruckenden Geschichte, verstummt die Menschlichkeit. Menschlich sind nur noch jene, die nicht die Toten essen.
Die Toten essen. Ein Verstummen. Eine Sehnsucht danach, selbst noch lebendig zu sein, und koste es, was es wolle, zu überleben.
Verstummen ist Stillstand. Ist die Notwendigkeit, sich in Begebenheiten zurechtzufinden. Eine Bewusstwerdung, bevor man wieder etwas sagen kann. Oder? Und es ist die stille Suche nach neuen Worten. Nach einem Unentdeckten. Nach etwas, wie es mir einst mein Globus war. Auch die Stimme meiner Mutter.
Ich schalte das Licht ein, der Globus bleibt finster. Das Bild, in dem wir uns bewegen, flackert. Man selbst steht in diesem Flackern still und will, weil es die Eigenheit des Menschen ist, sich in eine bessere Zukunft zu entwerfen, ein Upgrade des Jetzt, will Chancen sehen und nicht das Finstere, keine Dunkelheit, die wartet. Will jetzt schon in dieser hellen Zukunft sein. Will Geschichten erzählen, die noch nicht geschrieben werden können. Wir müssen uns noch ein wenig gedulden, so lange, bis das Verstummen eine Stimme hat und die Welt eine neue Gegebenheit.//
- Isabella Feimer ist Schriftstellerin und lebt in „Bleib daheim“ Wien. Zuletzt erschien die Erzählung Monster (2018) im Limbus Verlag. (Foto by Isabella Feimer; Foto der Autorin by Manfred Poor)