Die Sturmflut 1962, in der Hamburg-Wilhelmsburg, südlich vom Hamburger Hafen auf einer Elbinsel gelegen, am schlimmsten betroffen war, dient Malte Borsdorf für seinen aktuell im Müry Salzmann Verlag veröffentlichten Debütroman Flutgebiet als Hintergrund einer Erzählung, deren Hauptfiguren ein proletarisches Dreieck aus Vater – Mutter – Sohn bilden.
Der Vater arbeitet als Hafenarbeiter, die Mutter in einer Wilhelmsburger Kneipe, der Sohn hat gerade die Schule abgeschlossen, liest wie besessen Bücher und hat eigentlich nicht genug Körperkraft, um ebenfalls zum Löschen von Schiffsladungen herangezogen zu werden. Aber seinem Vater das Essen zu bringen ist Pflicht, dazu hat Karl das teure Fahrrad überhaupt bekommen, und es diebstahlsicher abzustellen, weil die Wetterlage das Radfahren nicht zulässt, wird das erste Problem sein, über das Karl stolpert. Vater Heinrich ist streng. Beim Soleieressen hingegen bekommt er „Weichheit um Mund und Augen, die obszön wirkte“, weswegen seine Frau Agnes ihn derweil nicht anschauen mag. Von angelesenem, durch die Leihbücherei unterstütztem Wissen hält der Vater nichts, Bibliotheken „verderben unsere jungen Leute“.
In eingeschobenen Rückblenden werden die Lebensumstände immer deutlicher: die Stammgäste, die oft Kollegen von Heinrich sind, und Agnes´ mutmaßlich kriegsversehrter Chef, der Wirt Novotny, der Wandschrank, in dem der halbwüchsige Karl schläft und liest, das Kneipenradio, aus dem nicht viele Warnungen vor der Flut dringen – die manche Menschen in Wilhelmsburg in behelfsmäßigen Baracken und Schrebergartenlauben im Schlaf heimsucht. Die Hubschrauber der Bundeswehr treffen spät ein, zunächst ist die Bevölkerung völlig auf sich gestellt. Sammelinsel ist für alle, die sich retten konnten, die Kneipe – und wer ein Boot hat, wagt sich vielleicht in den Sturm. Die Katastrophe ist natürlich möglicherweise auch ein Eldorado für etwaige Plünderer – und es kommt zu einem heftigen Konflikt zwischen Heinrich und einem ehemaligen Schulkameraden von Karl, der für Heinrich nicht gut ausgeht. Agnes wird später herangezogen, auf einer gesperrten Eislaufbahn im Vergnügungspark Planten un Blomen Opfer aus Wilhelmsburg zu identifizieren – und Karl landet im Gefängnis.
Malte Borsdorf gelingt die Milieuschilderung, die Glaubwürdigkeit der harten Lebensumstände, eine angenehme Art von Gesichtslosigkeit und dabei eine lebendige Figurenführung, ein paar biedere Vokabeln wie „gelangten“ und „schlug die Augen nieder“ stören deswegen kaum. Eine topografische Abbildung von Wilhelmsburg, das erst 2008 zu einem Hamburger Bezirk wurde, wäre nicht überflüssig gewesen. Dass Karl im Gefängnis vom Erhalt eines Buches von Heinrich Böll, den Ansichten eines Clowns, getröstet wird, das tatsächlich erst 1963 veröffentlicht wurde, wirkt widersprüchlich: Zunächst, nach einigen Seiten Lektüre, wird das Licht in der Zelle ausgeschaltet, und selbst ganz nah am Fenster kann Karl „die Buchstaben in dem matten Licht kaum“ sehen, aber kurz darauf heißt es: „In dieser Nacht las Karl das Buch.“ Die Nacht mit Bölls Buch in der dunklen Zelle kommt leider auf kleinliche Art … kitschig rüber. Und Kitschverdacht, hat er sich erst einmal eingenistet, kann für ein Buch so gefräßig werden wie Krebs.
Gesche Heumann
(Foto Gerhard Pietsch – mit freundlicher Genehmigung aus dem Privatarchiv von Gerhard Pietsch, Hamburg, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1672370)
- Malte Borsdorf: Flutgebiet. Roman. Salzburg: Müry Salzmann Verlag 2019. 240 Seiten, gebunden. 19 Euro