Wo warn wir? ach ja: Junge österreichische Gegenwartslyrik heißt die verdienstvolle Anthologie, die Robert Prosser und Christoph Szalay im Innsbrucker Limbus Verlag herausgegeben haben. Der Band ist nicht nur der Beweis dafür, wie lebendig die Kunstform Lyrik auch im 21. Jahrhundert noch ist. Er zeigt auch, wo genau in Österreich Lyrik entsteht und Öffentlichkeit bekommt.
Das Gedicht lebt, bloß der Reim ist tot. Dieser Eindruck drängt sich beim Durchforsten des 250-seitigen Bandes mit dem kuriosen Titel Wo warn wir? ach ja: Junge österreichische Gegenwartslyrik auf. Die beiden Herausgeber haben sich vorgenommen, einen Überblick über die aktuelle junge Lyrikszene in Österreich zu geben und den Autoren und Autorinnen die Beachtung zu verschaffen, die sie – als marginalisierte Gedicht-Produzenten – in der Regel nicht haben im Buchhandel und Literaturbetrieb.
Wie lange ist ein Autor, eine Autorin jung? Was ist ein österreichischer Autor? Einer, der in Österreich geboren ist, oder auch einer, der dort hingezogen ist? Gehört Südtirol auch zu Österreich, wenn eine in Italien geborene Autorin auf der österreichischen Seite lebt? Auf Fragen wie diese haben Robert Prosser (*1983) und Christoph Szalay (*1987) Antworten finden müssen. Sie haben das lyrische Österreich einfach in vier Himmelsrichtungen aufgeteilt: Klar, dass im Osten (Wien) am meisten los ist.
Verdienstvoll ist das Buch nicht nur wegen seiner Fülle stilistischer und thematischer Richtungen, die die Vitalität der Lyrik widerspiegeln. Auch typografisch ist das, was sich die jungen Lyriker und Lyrikerinnen beim Schreiben gedacht haben, mitunter eine echte Herausforderung: Da gibt es Kürzest-Vierzeiler, zweistimmige Moritaten, mehrseitige Elegien, Fremdsprachliches und dialektale Formen, gern in ein extravagantes Layout gefügt. (Mancher Text wirkt allerdings so, als wäre er Kurzprosa, die unnötigerweise in Gedichtform gebracht wurde.) So vielfältig und spielerisch die Formen sind, so auffällig ist die Abwesenheit von Reimen. Die Idee, Verdichtung und Verknappung durch Reime zu erreichen, scheint die junge Generation nicht zu interessieren.
Osten, Westen, Norden, Süden (die Beteiligten) – vor jedes Kapitel haben die Herausgeber ein kenntnisreiches Editorial gestellt, das den Stand der Dinge zusammenfasst: In welchen Städten, an welchen Orten und in welchen Medien findet Lyrik überhaupt statt? Wo sind die Verlage, Magazine, Online-Foren, Websites mit offenen Augen und Ohren für Lyrik? Wo treffen sich Menschen, die Lyrik schreiben, drucken und hören wollen?
In Graz treffen sie sich jedenfalls in der Redaktion der Lichtungen. Der Band Wo warn wir? ach ja: Junge österreichische Gegenwartslyrik ist nämlich die erweiterte und überarbeitete Version eines Dossiers, das in der renommierten Literaturzeitschrift Ausgabe 157 / XXXVIII Jg. / 2017 erschienen ist. „Lyrik muss nicht kommerziell sein. Sie muss allerdings gehört und gelesen werden. Vielleicht ist und bleibt sie die letzte gänzlich freie Kunstform“, heißt es mit den Worten von Erwin Uhrmann auf dem Backcover des Buches, das ein Füllhorn von lyrischen Beweisen für diese These enthält.
Alexander Musik
- wo warn wir? ach ja: Junge österreichische Gegenwartslyrik. Herausgegeben von Robert Prosser und Christoph Szalay. Innsbruck: Limbus Verlag 2019. 256 Seiten.