Neulich erst haben wir den marix verlag aufgetan und hier das ungewöhnliche Debüt Roman auf gelbem Papier von Stevie Smith vorgestellt. Mit dieser Begeisterung geht es gleich so weiter./sw
Barbara Comyns: Die Tochter
Ein junges Mädchen wächst wie Aschenputtel in einer düsteren Welt auf. Es kann sich nicht wehren – und bleibt, was es immer war: die Tochter eines bösen Vaters.
1959 erschien Die Tochter zum ersten Mal und brachte seiner Autorin Barbara Comyns endlich die ersehnte Aufmerksamkeit und den literarischen Erfolg. Graham Greene schrieb damals hymnisch über das Buch, das von Leid und Schrecken, von einem kurzen Leben und von einer fantastischen Gabe erzählt.
Die 17-jährige Alice wächst in einem düsteren Elternhaus auf. Der Vater ist ein jähzorniger, egoistischer Tierarzt, der seine Frau nur wegen des Geldes geheiratet hat und sie nun ebenso hasst wie die Tochter, die kein Sohn geworden ist. Über die kranke und ängstliche Mutter, die manchmal sehnsüchtig von ihrer frohen Kindheit auf dem Land erzählt, heißt es gleich am Anfang: „Sie hatte kleine Knochen und hängende Schultern; außerdem waren ihre Zähne nicht gerade; wäre sie ein Hund gewesen, hätte mein Vater sie eingeschläfert.“ Dieser Satz hallt in seiner Brutalität und Klarheit lange nach, und er legt auch schon die Spur in eine Geschichte, in der die Heldin nur selten Freude erfährt.
Nach dem Tod der Mutter bringt der Vater eine neue, vulgäre Frau ins Haus, das Mädchen wird zur Dienstmagd wie im Märchen, aber es rettet sie kein strahlender Held. Stattdessen wird ein junger Tierarzt zum einzigen Freund und potenziellen Bräutigam. Er schickt Alice für eine Weile aufs Land als Gesellschafterin seiner depressiven Mutter. Hier wird sie zum ersten Mal unbeschwert sein, sich an der Natur erfreuen, den Müßiggang genießen – und sie wird einen jungen attraktiven Mann aus besseren Kreisen kennenlernen. Mit ihm erlebt sie in aller Unschuld ein paar glückliche Tage, bis er das Interesse an ihr verliert. Und dann bringt sich die alte Frau um und Alice muss zurück nach London, wo sie nur Schrecken und Lieblosigkeit erwarten.
Barbara Comyns, die offenbar eine ähnlich trostlose Kindheit erlebt hat wie ihre Heldin, erzählt eine eindrucksvolle Schauergeschichte, denn ihre Heldin verfügt über eine Fähigkeit, der sie am Ende im wahren Sinn des Wortes zum Opfer fallen wird: Sie kann levitieren, also sich in die Luft erheben und frei schweben. Diese Fähigkeit macht sie zur ungewollten Außenseiterin und zum Spielball geldgieriger Männer.
Barbara Comyns, über die Jane Gardam einmal schrieb, sie habe sich die Kraft kindlicher Imagination erhalten, hat ein bewegtes Leben geführt. Eine frühe Ehe scheiterte bald, um ihre beiden Kinder durchzubringen, arbeitete sie als Köchin, als Immobilienmaklerin, sie züchtete Pudel und verkaufte Oldtimer. Und sie war vor allem auch bildende Künstlerin.
Jane Gardam erzählte, wie ihr Die Tochter vor vielen Jahren von einer Bibliothekarin empfohlen worden war. Sie hatte nach guten neuen Romanen gefragt in einer kleinen Leihbücherei in ihrer Nachbarschaft und bekam die Antwort: Es gebe keinen guten englischen Roman seit DIE TOCHTER.
Dass der Wiesbadener marix verlag diese Autorin (in der hervorragenden Übersetzung von Claudia Wenner) endlich dem deutschsprachigen Publikum zugänglich macht, ist gar nicht genug zu loben.
Manuela Reichart
(Originalbeitrag auf rbb, adaptiert für den Blog)
- Barbara Comyns: Die Tochter. Roman. Aus dem Englischen von Claudia Wenner. Wiesbaden: marix verlag 2019. 208 Seiten. 20 Euro.