„Man kann sich seinen Gott nicht aussuchen.“ Seine Bücher schon. Und manche überdauern Jahreszeiten und Jahre und hallen nach, wie Der Vogelgott von Susanne Röckel. Erschienen ist der viel gelobte Roman der deutschen Schriftstellerin und Übersetzerin bereits im Frühjahr 2018 im renommierten Verlag Jung und Jung und stand leuchtend auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2018. Noch heute versuchen wir sein Geheimnis zu ergründen und erschauern, wenn wir an ihn denken./sw
Der Vogelgott
Als Konrad Weyde Jahrhunderte später nach dem schrecklichen Ereignis im Gyrtental nach dem Vogelgott greift – um mit dem mystischen Tier, fachkundig ausgestopft und präpariert, vor seinen Ornithologie-Freunden zu prahlen –, ahnt er kaum, welches Unglück er über die Seinen bringen wird. Seine Kinder Thedor, Dora und Lorenz, sie alle werden in gewisser Weise der Gottheit geopfert, verschwenden ihre Leben, unterliegen dem Wahnsinn. Jeder von ihnen ein moderner Prometheus, der sein Innerstes opfert – doch wartet auf sie weder Begnadigung noch Erlösung in diesem außergewöhnlichen Roman.
Hineinlesen lässt sich in ihn vieles: Einerseits wirkt er durch seine geschickte Konstruktion, die Orte über Jahrhunderte und Kontinente miteinander verbindet, die Lebensläufe raffiniert miteinander verknüpft, fast hermetisch. Andererseits beinhaltet er eine Vielzahl an Topoi und damit Deutungsmöglichkeiten: Die Hybris des Forschers, der meint, die Natur bezwingen zu können. Die Dramatik einer Familiengeschichte, drei Kinder, gefangen zwischen einem kalten, strengen Vater und der sanften, viel zu früh verstorbenen Mutter. Der bei allem zivilisatorischen Fortschritt unausrottbare Aberglaube, der jedem Menschen innewohnt. Das Ringen zwischen Moderne und Tradition. Der Fortbestand eines Traumas über Generationen hinweg.
Die kunstvoll gewebte Erzählung ist kaum in aller Kürze wiederzugeben, so vielschichtig, auf so vielen Ebenen angeordnet ist sie. Vorangestellt ist dem Buch ein unveröffentlichtes Manuskript des Vaters, der bei einem seiner geliebten Streifzüge ohne Familienanhang in ein unwirtliches Bergdorf gelangt. Einer der wenigen Bewohner, der mit ihm spricht, warnt ihn deutlich: Der Fang eines bestimmten Vogels sei verboten, wer das Verbot nicht achte, habe mit einer Strafe zu rechnen. Aug in Aug mit diesem mysteriösen Vogel überfällt Konrad Weyde eine sonderbare Schwäche:
„Die Vorstellung, im kalten Schatten dieser Felsen unsichtbar zu werden, verloren zu gehen, zu verschwinden, ließ mich nicht mehr los. Ja, ich würde verschwinden – und mit mir meine Kinder und deren Kinder –, vom Licht vergessen, würden unsere Konturen sich auflösen, unsere Körper würden mit dem Schatten der Erde verschwimmen, und die Finsternis des Universums würde uns aufsaugen und verschlucken – dieser Gott aber, dessen Machtbefugnis ich nicht mehr bezweifeln konnte, er würde bleiben …“
Dieser Gott bleibt nicht nur, sondern zeigt sich auch omnipräsent, wie die nachfolgenden drei Kapitel, jeweils aus Sicht eines der erwachsen gewordenen Kinder von Weyde erzählt, erweisen werden: Thedor, der Jüngste, lässt sich als Arzt in ein (fiktives) afrikanisches Land verpflichten und erlebt dort, auf einer einsamen Missionsstation, den gewaltsamen Überfall einer Rebellentruppe, die einem Vogelgott huldigt – in einem grausamen Ritual werden diesem alle Kinder und jungen Mädchen geopfert.
Dora, die Tochter, erforscht das Schicksal eines Malers aus ihrem Heimatdorf, der zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges berühmt wurde, eine Meisterwerkstatt aufbaut, dann jedoch von einem Tag auf den anderen scheinbar seine Kreativität verliert und dem Wahnsinn verfällt. Wie sie anhand der Analyse des Gemäldes von der „Madonna mit Walderdbeeren“ dem Geschehen auf die Spur kommt. Auch hier werfen die mächtigen Schwingen des Vogelgottes seine Schatten. Das ist nicht nur – obgleich natürlich auch der Maler Johann Wolmuth eine fiktive Figur ist – kunsttheoretisch spannend, sondern zugleich auch aufgrund der besonderen Sprachmacht Susanne Röckels wunderbar zu lesen.
„Wolmuths Walderdbeerenstudie ist heute ein beliebtes Postkartenmotiv. Die kleine Staude mit den drei Stängeln wächst aus einem Boden mit welken Blättern und dunkler Erde heraus. Raum ist durch den Hell-Dunkel-Kontrast zwischen vorderen und hinteren Blättern angedeutet. Die dreizähligen gezähnten Blätter am vorderen Stängel sind dunkel schraffiert und sorgfältig gearbeitet, die des hinteren Stängels mit einigen zarten Strichen nur angedeutet. Der Hauptstängel wächst schräg nach oben. Auffällig ist, dass er sowohl Blüten wie Früchte trägt.“
Dem charakterlich am stärksten erscheinenden Sohn ist das schwächste, das letzte Kapitel vorbehalten: Lorenz, freiberuflicher Journalist, kommt seltsamen Experimenten mit Kindern in einer Heilanstalt auf die Spur, allen ist die plötzlich auftretende Angst vor Vögeln und Flugkörpern gemein. Dass die Beschreibung, wie auch Lorenz den Rahmen seiner scheinbar geglückten Existenz mit Familie und Beruf mehr und mehr verliert, gegen Ende etwas abfällt, ist der einzige Mangel dieses wuchtigen, sprachgewaltigen Romans.
Schillernd schön, sprachlich elegant und untergründig unheimlich – mit diesen Beschreibungen wurde Der Vogelgott im Feuilleton belegt. Irritierend, irisierend, irrlichternd: Zwischen all der Popkulturpoetik und Realexistenzprosa kann man dieses besondere Buch nicht genug hervorheben.
Birgit Böllinger
(ungekürzter Originalbeitrag erschien auf Sätze & Schätze)
- Susanne Röckel: Der Vogelgott. Salzburg: Verlag Jung und Jung 2018. 272 Seiten. Auch als E-Book erhältlich.