Hotlistlesen (8)

Eine der Gegebenheiten des Alltags ist, dass man, wenn man mittendrin steckt, den Eindruck hat, als würde der nächste Augenblick unseres Lebens, der nächste Tag, die kommende Woche ganz genauso verlaufen, wie wir selber es annehmen und erwarten. So, wie wir unsere Welt und unser Leben eben zu kennen glauben. Doch die Wahrscheinlichkeit, dass es sich dabei nur um einen Trugschluss unseres melancholischen Gehirns handelt, ist verhältnismäßig hoch. Die Möglichkeit, dass in jeder Sekunde unseres Lebens etwas völlig Unvorhergesehenes passiert, ist mindestens ebenso groß.

In den Erzählungen Das Buch der entbehrlichen Gedanken des türkischen Autors Ömür Iklim Demir, erschienen bei binooki aus Berlin, bekommt der Gegensatz von der Wahrscheinlichkeit des Alltäglichen und der Möglichkeit des Unvorhergesehenen ganz neue Perspektiven, und, so viel sei an dieser Stelle verraten, das Unvorhersehbare bricht mit Vehemenz in das Leben der Menschen ein. Wie es eben so ist, im Istanbul der Gegenwart, einer Stadt, in der sich nicht einmal die Unberechenbarkeit verlässlich voraussagen lässt.

Die 37-jährige Melda hat sich nach Jahren der Trauer um ihren früh verstorbenen Mann endlich dazu aufgerafft, ihr Leben nicht mehr in Einsamkeit verbringen zu wollen. Auf eine Zeitungsannonce hin tritt der 42 Jahre alte Ihsan mit ihr in einen berührenden Briefwechsel. Doch als sie einander schließlich persönlich kennenlernen wollen, bleibt Meldas Aufzug unverrichteter Dinge stecken. Erst Stunden später gelangt sie schließlich in das Café, in dem sie sich verabredet hatten. Irgendetwas an dem vor ihr sitzenden Mann kommt ihr seltsam vor, doch es bleibt kaum Zeit, dieses diffuse Gefühl näher zu beleuchten, denn nur wenige Augenblicke später hält die Unvorhersehbarkeit mit einem Knall Einzug in Meldas Leben.
Melda geht es wie all den anderen Figuren in Das Buch der entbehrlichen Gedanken. Es gibt einen einzigen Augenblick, der alles verändert, und die Frage, ob die Menschen anders gehandelt hätten, hätten sie dieses jeweilige Ereignis vorhersehen können, schwingt in vielen der Geschichten leise mit. Doch letztlich ist Ömür Iklim Demirs preisgekröntes literarisches Debüt eine tiefgründig und vielschichtig formulierte Liebeserklärung an die Unwissenheit über das, was wir erst herausgefunden haben werden, nachdem wir es erlebt haben.

Jorghi Poll

  • Ömür Iklim Demir: Das Buch der entbehrlichen Gedanken. Berlin: binooki 2018. 140 Seiten. 18 Euro.

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