Eine stille, eindringliche Geschichte, die noch lange nachwirkt: Laura Freudenthaler hat im Herbst 2017 ihren ersten Roman Die Königin schweigt im Literaturverlag Droschl veröffentlicht. Hier auf dem Blog gab es in der Prosa-Reihe vorher schon einen Ausschnitt zu lesen. Die Hauptfigur Fanny, eine alte Dame, verbringt ihre Zeit meist allein mit ihren Erinnerungen. Beim Lesen folgen wir ihr anhand einzelner Episoden durch ihre Vergangenheit: die Kindheit im Dorf, Heirat und Familiengründung, die tiefen Einschnitte des Krieges, Verlust und Tod, Umzug und neues Leben in der Stadt. In der Gemeinschaft ist sie „Königin“ – stolz, beherrscht, von vielen bewundert, oft eine Ratgeberin für die anderen. Diese Haltung macht sie einsam, und wirkliche Nähe wird für sie mit zunehmendem Alter immer schwieriger. Prägend für ihr Leben ist das Schweigen: Über manche Dinge spricht man nicht; es ist sogar zu schmerzhaft, sie in Gedanken zuzulassen.
Viele Leser werden dieses Schweigen von ihren Eltern und Großeltern kennen, und die Schwierigkeiten, die die Kinder- und Enkelgeneration mit Fannys Verschlossenheit hat, werden auch im Roman artikuliert. Die Autorin bleibt aber ganz nahe an ihrer Hauptfigur und schildert ihre Erlebnisse, Gedanken und Emotionen sehr einfühlsam, ohne zu werten oder zu entschuldigen.
Gespräch mit Laura Freudenthaler
Gibt es eine Episode, die ausschlaggebend für alle anderen war, die sozusagen den Keim des Romans in sich trägt?
Von meinem jetzigen Standpunkt aus würde ich der Szene unter der Küchenbank einen solchen Charakter zusprechen. Es gibt so Momente beim Schreiben, in denen man weiß, dieser Text ist jetzt in der Welt, man sucht ihn dann nicht mehr in sich selbst, sondern muss wohl immer wieder den Zugang zu ihm finden, aber der Text ist da in seiner Eigengesetzlichkeit. Eine Schriftstellerin habe ich mal sinngemäß sagen hören: Einen Text lässt man nicht im Stich. Um auf die Szene unter der Bank zurückzukommen: Die enthält vieles, was sich im Text, für Fanny, als bestimmend erweisen wird – ein Entrücktsein auf ganz vielen Ebenen.
Die Königin schweigt besteht aus eher kurzen Abschnitten, die in sich geschlossen wirken und die oft, auch wenn es um eine konkrete Begebenheit geht, darüber hinaus viel Zeichencharakter haben. Entstehen solche „Portionen“ auch beim Schreiben in einem Atemzug? Bist du bei den Erzählungen aus Fannys Leben chronologisch vorgegangen?
Wenn ich mich richtig erinnere, wofür ich allerdings nicht garantieren kann, so habe ich mich tatsächlich gewissermaßen in die Erinnerung hinein- und damit in diesem Leben zurückgeschrieben. Es entsprach also der Schreibprozess dem Erkenntnisvorhaben: Ein Versuch darüber, warum ein Mensch so wird, wie er eben wird, und warum ein Mensch so geworden ist, wie er uns in seinem Alter begegnet – unverständlich, eigensinnig, schwierig. Ohne dass man dies jemals gültig oder hinreichend erklären könnte. Denn zugleich ist es auch eine Untersuchung des Erinnerns und des Erzählens: Es gibt da Bilder, Fäden, die sich durchziehen, Episoden, auf die ein Licht fällt, das umso stärker auf das große nicht erhellte Rundherum verweist. Man kann diese Elemente in Beziehung zueinander setzen, es gibt mögliche Kausalitäten – die Art der Beziehungen und die Kausalitäten hängen aber immer davon ab, wer sich erinnert, wer erzählt, zu welchem Zeitpunkt Erinnerung oder Erzählung geschehen und für wen sie gedacht sind.
Fanny behält vieles für sich, dadurch geht für die Nachkommen viel von der Vergangenheit verloren. Werden Frauen traditionell als Bewahrerinnen und Weitergeberinnen von Erinnerungen gesehen?
Eine gewissermaßen traditionelle Rolle, die Fanny durchaus erfüllt, ist die Weitergabe von Erfahrung in Form von Märchen. Wenn ich so darüber nachdenke, fallen mir im Roman sehr unterschiedliche Aspekte zu dieser Thematik auf: Dass Fanny einerseits das Vertrauen der Frauen im Dorf genießt, sozusagen gesprächstherapeutisch aufgesucht wird, da sie, andererseits, die ihr anvertrauten Dinge für sich behält. Was mich an dieser dörflichen Redekultur, und vielleicht trifft das auch in anderen Milieus und Zeiten zu, so fasziniert, ist die Bewältigung von all dem Ungesagten im Reden über Anderes. Auch wenn hauptsächlich über lebenspraktische und, wie wir heute vielleicht sagen würden, unpersönliche Dinge gesprochen wird, hat das Reden an sich so viele Funktionen. Ein Beispiel dafür ist die Szene nach dem Selbstmord eines Bauern, als Fanny in dieser fremden Küche steht und zu den Kindern und der Witwe spricht, über die Jahreszeiten und Küken und Johannisbeeren, um den Zusammenbruch der Welt in diesem Moment zu verhindern.
Für Fanny wird jede Berührung mit schmerzhaften Erinnerungen in zunehmendem Alter fast unmöglich, besonders beeindruckend zu lesen in der Episode, als sie mit Hanna zu einem Besuch ins Dorf zurückkehrt. Gibt es Phasen in Fannys Leben, in denen ein gemeinsames Erinnern und Darüber-Reden noch möglich wäre, oder ist der Drang zur Beherrschtheit schon von Jugend an zu stark?
Ich werde mich hüten, darauf zu antworten, was und wie es anders hätte sein können. Ich denke, was jemand von dem Text wissen möchte, findet er auch darin. Bei einer solchen Überlegung entsteht in mir ein ähnlich trostloses Gefühl wie bei Gedanken von der Art – wenn ich oder er oder sie damals dies oder jenes getan hätte, dann …
In späteren Generationen hat man gelernt, dass es heilsam sein kann, über die Vergangenheit zu sprechen und Verdrängtes aufzuarbeiten. Mit der nächsten Generation, vor allem mit Fannys Schwiegertochter, ist ein Austauschen und gemeinsames Sich-Erinnern nicht möglich, zur Enkelin entwickelt sich ein näheres Verhältnis. Was ist hier anders?
Die Enkelin lässt sich von Fanny erzählen, sie nimmt, auch aufgrund ihres Kindseins, die Welt an, wie Fanny sie erzählend erschafft. Als die Enkelin die wirkliche Vergangenheit fordert, kann sich Fanny auch ihr nicht mehr mitteilen. Die Schwiegertochter fordert Fanny ja nicht zum Erzählen auf, sondern konfrontiert sie mit ihren Begrifflichkeiten und Beurteilungen – Wörter wie „Traumatisierung“ oder „Depression“ lassen sich aber auf Fannys Erleben nicht anwenden, sie sind bedeutungslos oder, noch schlimmer, sie entwenden Fanny dieses ihr Leben.
Fanny ist im Roman die Königin, und die Enkeltochter nennt ihre Geschichten später „deine Märchen“. Sind Märchen auch eine Inspiration zum Erzählen für dich?
Mich reizt die Sinnbildlichkeit von Märchen und die damit verbundene Vieldeutigkeit. Darin liegt eine beinahe beängstigende Offenheit für alles, was in der Welt ist, eine Offenheit gegenüber Lesarten, gegenüber den Lesern oder Zuhörern, von denen das Märchen nichts will. Denn zugleich ist das Märchen als erzählerische Form sehr geschlossen. Damit in Zusammenhang steht die Annahme, die auch eine Bedeutung für mein Schreiben hat, dass Märchen dazu dienen, etwas über das Leben zu lernen. Märchen lehren einen vielleicht, im Erzählen die Ambivalenz der menschlichen Existenz auszuhalten, die Zerrissenheit – zu ertragen, dass nichts aufzulösen ist.
Herzlichen Dank an die Autorin für das Interview!
Miriam Mairgünther
(Foto der Autorin © Marianne Andrea Borowiec)
- Laura Freudenthaler, geboren 1984 in Salzburg. Studium der Germanistik, Philosophie und Gender Studies, lebt in Wien. Die Erzählungen Der Schädel von Madeleine. Paargeschichten erschienen 2014 im Müry Salzmann Verlag. Für den Roman Die Königin schweigt erhielt sie den Förderpreis zum Bremer Literaturpreis 2018.
- Laura Freudenthaler: Die Königin schweigt. Graz: Literaturverlag Droschl 2017. 208 Seiten. 20 Euro