Mehr als eine Story

Die Comic-Künstlerin Sarah Glidden ist überzeugt, dass das Reisen ein unschlagbarer Erkenntnisgewinn ist – um sich über einen Ort seine Geschichte zu erschließen und zu verstehen, weshalb die Welt so tickt, wie sie tickt. Der beste Weg, dem weltweit florierenden Nationalismus etwas entgegenzusetzen, ist schließlich international zu denken. Sie hat heuer eine längere Lesereise durch Europa gemacht, mit einem Zwischenstopp in Wien: „So viel zu sehen und zu zeichnen!“ Gerade mal sieben Stunden war sie hier, Zeit für Kaffeehausbesuche, Schönbrunn und dafür, im International Institute for Peace ihren neuen Comic vorzustellen.

In ihrem Debüt „Israel verstehen – in 60 Tagen oder weniger“ hat die US-amerikanische Jüdin ihre Birthright-Reise nach Israel zu einer Reportage verarbeitet. Sie wollte den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern von Innen heraus begreifen. Was sie vor allem gelernt hat: Je tiefer man eintaucht, je mehr unterschiedliche Geschichten man hört, desto komplizierter wird es. Hinterher war sie sich ihrer eigenen Position noch weniger sicher als zuvor.

Es gibt nicht die eine Perspektive, die eine Story – auch nicht in ihrem neuen Buch. „Im Schatten des Krieges“ ist ihre zweite längere Arbeit; wieder geht es um eine Reise. Sarah Glidden hat eine Gruppe befreundeter Journalisten vom Seattle Globalist, einer unabhängigen Online-Zeitung, und einen ehemaligen Soldaten 2010 bei einer Recherche-Tour begleitet. Über die Türkei reisten sie in den Irak und nach Syrien: „All die Länder, vor denen wir uns fürchten sollen“, sagt ihr Alter Ego im Comic.

indexZu Beginn nimmt sie sich Zeit für die Vorgeschichte. Es wird viel darüber diskutiert, was die Reise eigentlich soll, aber auch, was sie sich grundsätzlich von Journalismus erwarten. Zu einem befriedigenden Schluss kommt die Diskussion nicht. Aber die Offenlegung dieser Gedanken und auch der Unsicherheiten macht deutlich, wie ernst die Gruppe ihre Arbeit nimmt. Darf man den Begriff Kurdistan verwenden, was ist ein Lav-Mikro und, nicht zuletzt, wie geht man mit dem eigenen Unbehagen um, wenn man sich zwei Monate durch globale Brandherde bewegt und keine Ahnung hat, was einen dort erwartet? Dass der Journalismus seine Glaubwürdigkeit derzeit permanent unter Beweis stellen muss, lässt sich schwer von der Hand weisen. Gliddens Innensicht darf ruhig als Beitrag zu ganz aktuellen Debatten gelesen werden – auch, wenn die Reise selbst einige Jahre zurückliegt. Vielleicht ist dieser Meta-Kommentar tatsächlich der interessanteste Aspekt des Buchs. Der Fokus liegt oft auf den Journalisten selbst und erst in zweiter Linie darauf, was ihre Kameras und Notizblöcke da festzuhalten versuchen. Dass Journalismus bis zu einem gewissen Grad immer subjektiv gefärbt ist, darin sieht Glidden kein Manko. Wichtig sei nur, mit offenen Karten zu spielen.

Sarah Glidden ist Mitte dreißig – sie ist, genau wie ihre Freunde, mit ganz bestimmten Bildern des Nahen Ostens aufgewachsen. „Es scheint, jede Generation von Amerikanern hat ihren Krieg“, sagt der Ex-Marine Dan in ihrem Comic. Dort gibt es sie, die Bilder von Panzern, Explosionen und Flecktarn-Uniformen. Aber auch Momentaufnahmen aus dem Alltag, etwa von chinesischem Essen im Irak. Oder von einem britischen Freiwilligen, der einer Gruppe Teenager in Damaskus Gedichte vorliest: Das Iraqi Student Project wurde von zwei Amerikanern gegründet, um irakischen Flüchtlingen in Syrien Zugang zum US-Schulsystem zu ermöglichen. Viele Geschichten handeln von Solidarität, von familiärem Zusammenhalt oder Freundschaften über die Grenzen hinweg.

Sie und ihre Freunde vom Seattle Globalist zeigen, dass es neben Breitbart News und der New York Times noch ganz andere journalistische Formate gibt. Und dass man eine gute Reportage auch „von unten“ beginnen kann. Graswurzeljournalismus, das klingt vielleicht ein wenig romantisch – aber nicht falsch. „Ich habe mich selbst allerdings nie als Aktivistin gesehen, ich weiß nicht, ob ich Teil einer größeren Bewegung bin“, sagt Glidden. „Ich bin nicht hier, um Donald Trump im Alleingang zu bekämpfen. Aber wir haben alle unsere Arbeitsfelder, Sachen, in denen wir gut sind. Ich kann eben Comics zeichnen, und ich möchte mein Talent so gut wie möglich nutzen.“

Erfunden hat Glidden das Genre Comic-Reportage nicht. Joe Sacco, ein US-Amerikaner mit maltesischen Wurzeln, gilt als Pionier; auch er hat Krisengebiete bereist und ist für eine drastische Bildsprache bekannt, die Glidden mit ihren zurückhaltenden Ligne-claire-Zeichnungen nicht spricht. Auch im deutschsprachigen Raum nehmen nichtfiktionale Comics an Bedeutung zu, es gab zuletzt etwa jede Menge Graphic-Novel-Biografien, von Sigmund Freud über Alan Turing bis Lili Grün. Und die etablierten Zeitungen entdecken Comics immer mehr als Reportageformat, obwohl sie mehr Platz einnehmen und aufwändig zu produzieren sind. „Aber dafür sind sie persönlicher, das ermöglicht einen ganz anderen Zugang. Man merkt, dass ein Mensch dahinter steht, wenn man einen Comic vor sich hat,“ sagt Sarah Glidden. In ihren Comics ist das unbestreitbar der Fall.

  • Sarah Glidden: Im Schatten des Krieges. Aus dem Englischen von Ulrich Pröfrock. Lettering: Minou Zaribaf. Font: Sarah Glidden. Berlin: Reprodukt 2017. 304 Seiten. 29 Euro

 

Jana Volkmann

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