Was nicht ist, ist möglich – Eine Welt ohne Grenzen in den Fatrasien
Als ich das Buchcover der Fatrasien kurz nach Erscheinen zum ersten Mal zu Gesicht bekam, las ich den Titel mit Betonung auf der zweiten Silbe, sozusagen als Name eines Landes, wahrscheinlich inspiriert von Michael Endes Phantásien. Dies ist natürlich nicht richtig; Fatrasie ist der Name für eine Gedichtgattung mit festgelegter Zeilenanzahl und Reimform. Trotzdem finde ich die Assoziation mit einem phantastischen Land passend, schließlich eröffnen die Gedichte eine ganz neue Welt, in der unsere Grenzen und Regeln nicht gelten. Möglicherweise liegt das Land gar nicht so weit entfernt, denn das wilde Fabulieren und Entwerfen absurder Szenen war den Menschen immer wieder eine Lust.
Die Fatrasien, wie sie in der schönen Ausgabe vom Wallstein Verlag in der deutschen Übersetzung von Ralph Dutli vorliegen, stammen aus dem Frankreich des 13. Jahrhunderts, größtenteils aus der Stadt Arras. Dort hat sich eine Sammlung von 55 Gedichten aus der Hand eines oder mehrerer unbekannter Verfasser erhalten; andere, die ebenfalls in dieses Buch aufgenommen wurden, sind mit ihrem Autor überliefert. Einer davon ist sogar ein Jurist und hoher Herr, was für die mittelalterliche Lyrik nicht ungewöhnlich ist, schließlich gab es immer wieder Männer der Kirche und Adelige unter den Verfassern weltlicher Poesie.
Das Nest einer Krähe,
vorn und hinten verkehrt,
hielt allerlei Reden …
Bis ins 13. Jahrhundert war der Adel die hauptsächliche Zielgruppe der Dichtung, und die Inhalte waren von „hohen“ Themen geprägt: Heldentaten, Heiligenviten, die Suche nach der Geliebten und nach Gott. Die Liebe kam vor allem in Gestalt der „hohen Minne“ vor, und die geliebte Frau trug stets auch Züge der Jungfrau Maria. Dann wuchsen die Städte, ebenso wie das Selbstbewusstsein ihrer Bewohner, und durch die Bedeutung des Handels bildete sich neben Adel, Klerus und Bauern ein neuer, bürgerlicher Stand heraus. So wurde der Wunsch nach einer neuen, weltlichen, gerne auch provokanten und persönlichen Dichtung laut. Spottgedichte und Satire waren beliebt, und in diese Strömung passen wohl auch die Fatrasien.
Im Winkel einer Möse
sah ich einen Dachs
eine Goldstickerei weben …
In der Welt der Fatrasien ist alles möglich, und alles wird vermischt. Grenzen zwischen Raum und Zeit, zwischen Mensch und Tier, zwischen Lebewesen und Ding, zwischen Gegenstand und Symbol sind bedeutungslos. Die Assoziation zum Karnevalesken ist sicher zutreffend, ebenso gehören natürlich derbe Ausdrücke aus dem Bereich des Geschlechtlichen und die Entthronung von Adel und Kirche dazu. Um tatsächliche Satiren handelt es sich aber dabei nicht, dafür sind die Bezüge zur Realität viel zu gering, und die Texte nehmen sich auch selbst viel zu wenig ernst: Ein Bild, das in einer Zeile aufgebaut wird, kann in der nächsten schon wieder zerstört werden.
Ich sah Saint-Quentin
Saint-Aubin packen
und damit auf Saint-Omer einschlagen …
Wahrscheinlich steht bei den Fatrasien die Form im Vordergrund, die Reime und das Lautmalerische; außerdem die Spontaneität und die Unterhaltung beim Verfassen. Sicher wurden sie auch in geselligen Gruppen oder bei öffentlichen Darbietungen gedichtet, so wie die G`stanzln und ähnliche Reimformen. Dafür spricht, dass manche Wörter und Wendungen immer wieder vorkommen, zum Beispiel der tote Mann (uns mors homs) oder der Zeitpunkt am Donnerstag nach dem Abendbrot (le juedy aprés souper). Auch grammatikalisch gibt es wiederkehrende Formen, vor allem den zweiten Konjunktiv – etwas, was beinahe passiert wäre (fust/fussent). Natürlich können diese Formen mit Bedeutung gefüllt werden, etwa dass der Tod in den Fatrasien kein dauerhafter Zustand ist oder dass das typische „hätte“/„wäre“ ironisch auf eine Rettung in letzter Sekunde und somit auf ein beliebtes Element der Heldendichtung hindeutet.
Es wäre schlimm ausgegangen,
wäre nicht ein Nieser gewesen,
den die drei im Schlaf taten …
Beides zusammen, der Inhalt und der Klang, kann von einer Übersetzung nicht eingefangen werden, worauf der Übersetzer im Nachwort auch hinweist: „In meiner deutschen Übersetzung geht es darum, die verrückten Bilder der Fatrasien möglichst genau wiederzugeben, ein Maximum an präziser Absurdität zu erschaffen. Die strenge, enge Form zu reproduzieren wäre ein Unternehmen von fatrasischer Unmöglichkeit.“ Die Präzision ist gelungen; die poetischen, derben und abstrusen Bilder der Dichter wirken einerseits flüchtig, andererseits wie etwas Selbstverständliches, das man am besten gar nicht hinterfragt. Um den ursprünglichen Rhythmus und Klang der Verse kennenzulernen, empfiehlt es sich auf jeden Fall, das jeweils unter dem deutschen Gedicht abgedruckte Original mitzulesen.
Ein Klugkopf ohne Verstand,
ohne Mund, ohne Zähne,
fraß die Welt auf …
Gerade bei so alten Texten mag die Frage gestellt werden, wie weit diese für den zeitgenössischen Leser noch relevant sind, außer dass man sie, wie in diesem Fall, als kuriosen Fund aus der Literaturgeschichte betrachten kann. In den Fatrasien kommt aber einerseits eine Bewegung zum Ausdruck, die es in der Literatur und Kunst wiederholt gegeben hat, nämlich dass sich die Inhalte weg von den erhabenen Themen und näher zum Menschen hin, also näher zum Privaten, bewegen mögen. Was in den Fatrasien beschrieben wird, kennt niemand, und dadurch schließt es niemanden aus. Jede und jeder kann es zu ihrer und seiner privaten Vorstellung beim Lesen oder Hören machen. In diesem Zusammenhang sei auch auf die „Fatrastischen Fantasien“ von Dagmara Kraus (siehe Hotlistblog) verwiesen (die ich allerdings erst durch die Rezension kenne). Diese Form der absurden Poesie inspiriert die Dichter bis heute.
„Woher kommst du? Wohin geht’s? Welcome!“
Andererseits könnten sich die Absurdität und die nicht festzulegenden Bedeutungen, der ständige Zerfall und die Neuordnung der Fatrasien mit der Sichtweise der Dekonstruktion vertragen. Bekannte Zeichen treten zwar auf, aber deren Bedeutung lässt sich nicht festlegen; sie ist durch die Verbindung zu anderen Zeichen, wie sie sonst nicht auftritt, außer Kraft gesetzt. Machtverhältnisse spielen keine Rolle, und die Gegensätze existieren nebeneinander, sind also aufgehoben, da es keine Ausschlüsse mehr gibt. Gleichzeitig arbeiten die Texte an ihrer eigenen Dekonstruktion, da alles Beschriebene in Veränderung begriffen ist und es keine inhaltlichen Konstanten gibt. Vieles wäre beinahe passiert, aber indem man es ausspricht, ist es genauso „wahr“ wie andere Begebenheiten, die auf der Inhaltsebene tatsächlich passieren. Zum Schluss sei noch der naheliegende Vergleich zwischen Dichten und Träumen erwähnt, auf den auch der letzte Satz der Fatrasie Nr. 54 hinweist:
Ich dichte im Schlaf.
- Ralph Dutli: Fatrasien. Absurde Poesie des Mittelalters. Mit einem Essay von Ralph Dutli. Göttingen: Wallstein Verlag 2010. 144 Seiten. 19 Euro
Miriam Mairgünther