Zehn Menschengeschichten

Der Hotlistblog scheint ein Faible für Meeraugen zu haben, sie sind und bleiben ein faszinierendes Naturspektakel. Genauso beeindruckt ist er von der stetig wachsenden Zahl an bibliophilen Büchern, die in der Edition Meerauge (zum Verlagsporträt) aus Klagenfurt erscheinen. Das sind die schönen Bücher mit den Bohrungen, den Prägungen, dem gerippten Surbalin. Harald Schwingers Erzählband Mirós Mädchen ist nun der elfte Band und der Autor ein richtiger „Stammhalter“ der Reihe, in der er mit fünf Titeln vertreten ist./sw

Der Augenblick der Macht

Schmerz macht nicht stärker, sondern schwächer, findet Maria, die Protagonistin der Geschichte „Vorsicht mit Namen“, und dies trifft auch auf die anderen Charaktere in Harald Schwingers Texten zu. So gesehen sind alle geschwächt. Dennoch schaffen sie sich Situationen, in denen sie stark sind, indem sie Macht über andere ausüben, indem sie verletzen oder gar töten.

Die zehn Geschichten in Mirós Mädchen nehmen die Lesenden im wahrsten Sinne des Wortes mit. Man befindet sich schnell mitten in der Geschichte, da die Figuren in wenigen Sätzen greifbar gemacht werden. Die Strategie des Autors ist dabei, oft Abgründiges, im Allgemeinen als peinlich Angesehenes über sie preiszugeben. Aber man kann es sich nicht so einfach machen, sie zu verurteilen, dafür ist man ihnen schon zu nahe gekommen, als würde man ein Geheimnis mit ihnen teilen. Und so muss man ihren Gedanken und Taten eben folgen, die aus ihrer Sicht oft allzu nachvollziehbar wirken. Viele Texte haben überraschende Wendungen, die beinahe an Roald Dahls makabre Geschichten erinnern, nur sind sie bei Schwinger mehr tragisch als komisch. Manche Dinge, die der Autor beschreibt, könnten aus einer anderen Sicht komisch sein, weisen hier aber eher auf Unruhe bis zur Verzweiflung hin – ein Hund mit großen Pfoten, den seine Besitzerin Maria nicht mehr bändigen kann und der stellvertretend für andere Dinge steht, die in ihrem Leben aus dem Ruder laufen; eine Schriftstellerin, die sich beruflich und privat nicht mehr angenommen fühlt und ihrer jungen Konkurrentin auf der Verlagsparty ein Baguette über den Kopf schlägt.

Mehrere von Schwingers Figuren haben schreibende Berufe, und sie zeigen, dass man auch auf dem Papier töten kann. In der Geschichte „Diktatorische Landschaft“ liest man ein Zitat von Elias Canetti, das zu der mordenden Schriftstellerin passt: „Der Augenblick des Überlebens ist der Augenblick der Macht. Der Schrecken über den Augenblick des Todes löst sich in Befriedigung auf, denn man ist selbst nicht der Tote.“ Diese Aussage kann auch mit anderen Texten in dem Band in Verbindung stehen, das Gefühl der Macht und die Befriedigung sind jedoch meist von kurzer Dauer. Maria löst als kleines Mädchen den Tod ihrer Eltern aus und fühlt sich danach unsterblich. Viel Macht scheint sie aber als Erwachsene nicht zu haben. Eher sieht sie sich als die Heilige, Nachsichtige, die immer verzeiht, vor allem in der Beziehung.

Als Lektüre für zwischendurch sind diese Texte trotz ihrer Kürze nur bedingt geeignet, dafür wirken sie zu verstörend. Wer dafür bereit ist, den erwarten schräge Einfälle und lebensnahe Schilderungen sowie tiefe Einblicke in die Psyche der Figuren.

Miriam Mairgünther

  • Harald Schwinger: Mirós Mädchen. Erzählungen. Klagenfurt: Edition Meerauge 2016. 152 Seiten. 21,90 Euro

 

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