Debora Vogels Werk mag schon einige Jahrzehnte alt sein, aber es will entdeckt werden, nicht wiederentdeckt: Viele ihrer Texte wurden nun zum ersten Mal übersetzt. Vogel wurde 1900 in Bursztyn geboren, wuchs auf in einer Familie jüdischer Intellektueller. Sie lebte zwischendurch in Wien, wo sie erst eine polnische, dann eine deutschsprachige Schule besuchte; nach dem Ersten Weltkrieg kehrte die Familie nach Galizien zurück. In Lemberg studierte sie Philosophie und Literatur, besuchte Vorlesungen bei Kazimierz Twardowski und anderen Vertretern der Lemberg-Warschau-Schule – einem der Epizentren in Sachen Logik, dessen VertreterInnen mit ähnlichen Zirkeln wie dem Wiener Kreis gemeinsam Wissenschaftsgeschichte geschrieben haben. Promoviert wurde Vogel in Krakau mit einer Arbeit über Józef Kremer. Wenige Jahre darauf, 1930, trat sie mit einem Lyrikband auf die literarische Bühne. Im Sommer 1941 wurde Lemberg von den Deutschen besetzt, die jüdischen EinwohnerInnen wurden in ein Sammellager verbracht, Tausende getötet. Debora Vogel und ihre Familie – ihr Mann, der Architekt Szulim Barenblüth, der gemeinsame Sohn Aszker und Vogels Mutter – wurden im August 1942 ermordet.
Debora Vogel hat sich als Schriftstellerin nicht für das Polnische oder das Deutsche entschieden, die Sprachen, mit denen sie groß geworden und in denen sie sozialisiert worden ist, sondern für eine Sprache, die sie erst im Studium erlernte: Sie schrieb den größten Teil ihres Textkorpus auf Jiddisch. Das macht sie, wie es in literaturwissenschaftlichen Diskursen heute heißt, zu einer exophonen Schriftstellerin. Und es hat sie im Literaturbetrieb ihrer Zeit und darüber hinaus marginalisiert; sie lässt sich nicht ohne Weiteres für eine Nationalliteratur beanspruchen, im polnischen Sprachraum kennt man sie allenfalls für ihre Verbindung zu Bruno Schulz, nicht aber für ihr eigenes Werk.
Auch zu Lebzeiten wurde sie offenbar wenig beachtet. „Und trotzdem redete man hinter den Kulissen oft über das Buch“, schrieb der Dichter Ben Schaper über einen ihrer in den 1930er-Jahren publizierten Lyrikbände. Ihre Gedichte, Essays, Montagen und Briefe sind nun in einer Erstübersetzung von Anna Maja Misiak, die auch die Herausgeberin des Bands ist, erschienen – wobei die Ausgabe die jiddischen Gedichte (in lateinischer Umschrift) neben die ins Deutsche übertragenen stellt. So wird Vogels Entscheidung für ihre Literatursprache Tribut gezollt und gleichzeitig werden die Texte einem größeren Publikum zugänglich gemacht. Es ist dem Band zu wünschen, dass man sowohl hinter als auch vor den Kulissen davon spricht, dass die verdiente Auswahl für den Hotlistpreis nichts anderes als ein Anfang ist.

Ihre Texte sind avantgardistisch und modern. Im Denken war Vogel Kosmopolitin, ihre Lyrik handelt oft von Berlin oder Paris, vom Kino, von Bars und Boulevards. Farben sind besonders wichtig in diesen Stadtbildern: rostrote Kleider, gelbes Laternenlicht, „Dächer sind Zinnobertropfen auf gelbem Tuch“. Es hätte auch ein Gedichtband aus diesem Buchprojekt werden können, und wahrscheinlich hätte kaum jemand bemerkt, was einem da entgangen wäre. Vogels Essays und Prosatexte legen viel von ihrer eigenen Poetik frei – Gedanken zu Banalität und Monotonie etwa, die nicht zuletzt die Alltagsmotive ihrer Lyrik beleuchten. Es sind kühne und kluge theoretische Abhandlungen darunter. Überhaupt liest man das Buch am besten einmal von vorn bis hinten und beginnt dann mit den Gedichten von Neuem. Es wäre der Vielseitigkeit Debora Vogels, die in unterschiedlichen künstlerischen und intellektuellen Disziplinen daheim war, schlicht nicht gerecht geworden, sich auf ein einziges Fragment ihres Werks zu beschränken. So ist es ein durchaus schwerer und sperriger Band geworden, dem die umfangreichen Paratexe – Endnoten, Nachwort – zusätzliches Gewicht verleihen. Nichts davon ist Ballast. Die editorische Leistung, die der Geometrie des Verzichts zugrunde liegt, ist eine große: Man darf und muss auf nichts verzichten.
Jana Volkmann
(Foto Jana)
- Debora Vogel: Geometrie des Verzichts.Gedichte, Montagen, Essays, Briefe.Aus dem Jiddischen und Polnischen übersetzt und hrsg. von Anna Maja Misiak. Wien/Wuppertal: Arco Verlag 2016. 672 Seiten, zahlreiche Abb.
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