Hotlistlesen (4) – Szenen aus Schottland von James Leslie Mitchell

Hotlist Logo 2016Der Geruch von roter Lehmerde steigt in die Nase, feuchtkühle Luft streicht über die Haut, in der Ferne steht die majestätische Hügelkette der Grampians am Horizont, wenn der Nebel ausnahmsweise zerreißt und der Himmel aufklart.
Die Szenen aus Schottland von James Leslie Mitchell, erschienen im jungen Guggolz Verlag, sind frei von Dudelsack- und Tartankaros. Sie zeigen Menschen, die versuchen in einer harten, kargen Landschaft zu überleben, so schwer die Entbehrungen auch sind, Mitchell schildert das mit grenzenloser Liebe zu Land und Leuten. Und diese Liebe verpackt er in wunderbare Worte.
James Leslie Mitchell, geboren 1901, entstammte einer Landarbeiterfamilie aus der Nähe Aberdeens. Als Verwaltungsmann beim Militär arbeitete er in Indien, im Nahen Osten und Ägypten. 1928 ließ er sich in England nieder und wurde Schriftsteller. Er starb im Alter von nur 34 Jahren. Seine Heimat ließ ihn niemals los, Mitchell blieb im Herzen stets »schottisch«.

Die vorliegenden Erzählungen spiegeln die Mentalität der Menschen in einer schönen, aber wenig fruchtbaren Landschaft. Das Leben der Bewohner der kleinen Höfe und Kotten ist unerbittlich. Sie plagen sich täglich ab auf den Feldern und der Ertrag ist gering. Sehr sensibel und ohne Sentimentalität oder Rührseligkeit nähert sich Mitchell diesen Menschen. Die harte Arbeit hat sie abgestumpft und ihre Seelen vernarbt. Ein Bauer schuftet sich da buchstäblich zu Tode. Ein anderer vergisst über sein verzweifeltes Bemühen, ein Stück Ödland fruchtbar zu machen, seine Frau. Er bemerkt nicht, wie sie erkrankt und stirbt, selbst noch an ihrem Grab grübelt er über bessere Methoden des Düngens.
Die Bauern verfluchen das karge Land, dem sie die Ernte abringen müssen, kommen aber nicht von ihm los. In kurzen Momenten des Luftholens heben die Feldarbeiter ihren Blick und es blitzen, versteckt in Nebensätzen und kurzen Einwürfen, wundervolle Liebeserklärungen an die Weite der Hügel auf, an den Blick über Seen, Wälder und Flüsse. Mitchell malt keine Idylle, sondern entwirft hyperrealistische Bilder. Schönheit und Entbehrung bilden eine Symbiose. Der Mensch formt die Landschaft, die Landschaft den Menschen. So knapp und kurz gehalten die Geschichten auch sind, die Figuren schrumpfen niemals zu Typen oder Chargen. James Leslie Mitchell schafft selbst für die kleinste Nebenfigur individuelle Charakterstudien.

James Leslie Mitchell
James Leslie Mitchell

Dieser poetisch-realistische Blick auf Schottland lässt sich besonders eindringlich in dem Zyklus „Das Land“ studieren. Im Gang durch die Jahreszeiten streift er über ein kleines Stück Natur. Es wechseln nicht nur Klima, Wetter und Licht, es leben nicht nur Fauna und Flora auf und sterben wieder ab, sondern auch die Gefühle und Gedanken des Betrachters. Im Kreis der Jahreszeiten entdeckt Mitchell auch evolvierende Stationen des Lebens und der Zeit an sich.
Mitchell ist nie daran interessiert, Vergangenes oder Gegenwärtiges zu konservieren, sondern er glaubt sehr wohl an Fortschritt und Entwicklung. Das belegen die zwei Städteporträts von Glasgow und Aberdeen. Diese beiden Texte sind härter und journalistischer im Klang und in der Argumentation als die übrigen Erzählungen. Mitchell prangert die unwürdigen Lebensumstände der Armen in den Slums der Großstädte an, verurteilt die Industrialisierung und ihre entfremdenden Arbeitsprozesse. Schlechtes Essen, schnell gekocht und schnell verschlungen; kurze Leben, schnell verbraucht und jäh beendet. Gleichzeitig sät er Hoffnung zwischen diese unerbittlichen Zeilen. In der modernen Großstadt vermutet Mitchell auch utopische Potentiale. Nur in den Städten, so sie denn reformiert würden, können sich Räume auftun für eine bessere Zukunft der Landbevölkerung, davon ist Mitchell fest überzeugt.

James Leslie Mitchell war überzeugter Sozialist und Antinationalist. Diese politische Haltung hat er nicht nur in die reportageartigen Städteporträts hineingetragen. Sie schimmert auch in den sehr poetisch gefärbten Erzählungen von den Menschen in der Landschaft. Mitchell verklärt nicht, er bleibt bei aller Poesie immer realistisch und den Menschen und ihren Lebensbedingungen eng verbunden. Kitsch und Folklore sind im fremd.
Mitchells Sprache ist kraftvoll, vokabelreich und liefert überraschende Bilder. Doch sie bleibt bei aller lyrischen Konzentration immer klar, direkt und eindringlich. Esther Kinsky, selbst eine ausgezeichnete Schriftstellerin, hat Mitchells Texte ganz wunderbar übersetzt. Sie muss viele alte Wörterbücher gewälzt haben, um diese schönen Begriffe zu finden, bei denen der Leser unwillkürlich ausruft: Oh, was für ein treffendes Wort, das habe ich lange nicht mehr gehört. Gerade damit wird Kinsky Mitchells poetischem Realismus sehr gerecht.

Jochen Kienbaum (Gastrezensent von lustauflesen.de)

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  • James Leslie Mitchell: Szenen aus Schottland. Aus dem Englischen und mit einem Nachwort von Esther Kinsky. Berlin: Guggolz Verlag 2016. Gebunden mit Lesebändchen. 170 Seiten. 19 Euro.

Der Beitrag findet sich auch in einer längeren Fassung auf „We read Indie“.

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