Wer bei einem unabhängigen Buchverlag seine Bücher verlegt, die und den nennen wir einfach mal Indie-Autorin und Indie-Autor. Die beiden müssen das nicht immer bleiben, Literatur lässt sich nicht binden, aber es ist schön, wenn es so ist.
Beim Hotlistblog kamen bisher nur die fertigen Bücher, oft die Großform Roman, solcher AutorInnen zu Wort. Jetzt lassen wir sie direkt für uns und alle Prosa schreiben.
Es regnet heute in Strömen und wir freuen uns über unseren jungen Gast Elias Hirschl aus Wien. Als Poetry-Slammer hat er schon länger einen Namen, seit 2015 zeigt er auch im Genre Roman sein Talent als Mann fürs Skurrile, Schräge, Arge und Komische bei der erzählerischen Verhandlung kniffliger Probleme der Logik und Philosophie. Im Jahresrhythmus erschienen beim Milena Verlag, dem Verlag für heftige Bücher, Der einzige Dorfbewohner mit Telefonanschluss (2015) und Meine Freunde haben Adolf Hitler getötet und alles, was sie mir mitgebracht haben, ist dieses lausige T-Shirt (2016).
Hopp auf!
Das Fahrrad: Symbol des urbanen, umweltbewussten Menschen. Ein Werkzeug zur Rettung der Welt vor Lärm und CO2.
Kommt man jedoch, wie ich, aus einer Radsport-Familie, käme man nicht einmal im Traum auf die Idee, Fahrradfahren mit Umweltschutz in Verbindung zu bringen. Das Fahrrad ist, was die Familie Hirschl angeht, so CO2-neutral wie eine Lkw-Kolonne, die Bauteile für ein neues Kohlekraftwerk liefert.
Frühling 1969: Das Welser Kirschblütenrennen. Hunderte Menschen reisen in ihren Bussen an, vollbeladen mit Rennrädern, um ein paar mal damit im Kreis zu fahren und dann wieder in ihren riesigen Autos zurück nach Hause zu schippern.
Das Rennrad ist ein Mittel um von A nach A zu gelangen.
Und der Papa hat auch Schuld daran.
Der Papa war immer schon ein Radsportbegeisterter. Mit 20 Jahren ist er die Österreich-Rundfahrt gefahren, und mit 30 hat er das Welser Kirschblütenrennen mitbegründet, woran er dann auch jährlich teilgenommen hat. Kurz vor 9 in der Früh hat man die jubelnde Menge schon an den Rändern der Startlinie in der Oberfeldstraße aufwarten gesehen – heißblütig darauf pochend, dass die Männer gleich losfahren. Diese schwitzenden, kräftigen, jungen Männer, in ihren engen Trikots und Radlerhosen, mit ihren durchtrainierten, glattrasierten Wadeln, die die Mama immer ganz aus dem Häuschen bringen. Und der Papa mitten unter ihnen.
Die Kinder laufen ihm am Straßenrand hinterher, wenn er losfährt.
Hopp auf!, rufen sie. Hopp auf!
Der Papa hat gesagt, ihr müssts ganz laut Hopp auf! schreien, wenn die Radler vorbeifahren, damit sie schneller werden.
Hopp auf! Hopp auf!
Der Papa hat gesagt, wer am lautesten Hopp auf! schreit, kriegt eine Schartner Bombe. Und die Kinder schreien Hopp auf!.
Nie sind sie auf die Idee gekommen, dass in Wirklichkeit niemand ihre Lautstärke misst.
Hopp auf! Hopp auf!
Und nie haben sie sich darüber beschwert, dass am Ende sowieso jeder eine Schartner Bombe bekommen hat.
Eine der großartigsten Sachen am Kirschblütenrennen ist, dass die Rennstrecke über einige Bahnübergänge führt. Und das Kirschblütenrennen ist einfach nicht wichtig genug, dass man nur deswegen extra den Zugverkehr einschränken würde. Das bedeutet: wenn zufällig ein Zug angefahren kommt, dann sind die Schranken zu. Und die Radfahrer haben keine andere Wahl, als davor stehen zu bleiben und zu warten, bis sie irgendwann wieder weiterfahren können.
Diese Irrsinnigkeit der Logistik zerstört mit einem Schlag die gesamte Rennplanung mit all den Teambesprechungen, dem Windschattenfahren und dem Feldabstellen, bei dem die einzelnen Teams einen einzigen Fahrer nach vorne fahren lassen, während der Rest einfach versucht das Hauptfeld am Vorbeifahren zu hindern. Die komplexesten Taktiken spielen sich da ab, nur damit man schneller als die Konkurrenz ist. Aber völlig egal, wie weit ausgebaut der Vorsprung des schnellsten Fahrers zum Hauptfeld schon ist, und wie gut die Teamkollegen das Hauptfeld abstellen: Wenn der Zug kommt, dann war die ganze Anstrengung umsonst.
Ein einziger Faktor der schieren Willkür kann jederzeit das ganze logische Gebilde zum Einsturz bringen, das wir uns aufgebaut haben. Das hat der Papa gewusst. Und er hat es zugelassen. Denn die Kinder haben ja Hopp auf! gerufen.
Irgendwann ist der Papa dann älter geworden. Dann ist er nimmer selber beim Kirschblütenrennen mitgefahren.
Der Papa hat eine Radschule für die jungen Nachwuchstalente gegründet. Die Bambinis. Seine ganze Energie hat er da hineingesteckt. So viel Energie, dass sich die Leute gefragt haben, wo er die eigentlich hernimmt. Und selber hat er’s auch nicht so genau gewusst. Aber er wollte etwas aufbauen. Für seine Kinder. Und wahrscheinlich auch für ihn selbst. Damit die gscheit radln, die Kinder! Wennst gscheid haxlst stehst am Stockerl. Wennst am Stockerl stehst, hat dich der Papa lieb.
Wos wüßt sonst machn, ha?! Fuaßboi spühn? Bist jo fü z’blad fia sowas!
Ja, der Papa hat gwusst, was gut für einen ist. Er wollte seine Kinder radfahren sehen. Und er wollte, dass sie glücklich dabei waren. Wahrscheinlich hätt‘ er sich einfach gern selbst wieder auf einem Rad gesehen, mit rasierten, durchtrainierten Wadeln. Jung und kräftig. Und glücklich.
Aber der Papa war alt. Der Papa ist zum Opa geworden. Irgendwann hat er sich von seiner Frau zum Rennen fahren lassen und ist gar nicht mehr aus dem Auto ausgestiegen. Irgendwann hat er nicht einmal mehr den Kopf gedreht, um den Radfahrern zuzuschaun. Und Hopp auf! Hopp auf! haben die Kinder gerufen.
Irgendwann ist er ganz zuhause gelieben.
Irgendwann hat er die Namen von seinen Enkeln verwechselt und dann die von seinen Kindern. Er hat nicht mehr einschlafen können und nicht mehr aufstehen. Gegen beides hat ihm der Arzt was verschrieben, sodass die Wirkungen sich gegenseitig aufgehoben haben und nur noch die Nebenwirkungen zu spüren gewesen waren.
Die Bambinis sind ihre Runden gefahren und die Welt vom Opa hat sich auf einen immer engeren Kreis zusammengezogen, in dem nur noch das Sofa und der Fernseher Platz gehabt haben. Und Hopp auf! haben die Kinder gerufen. Hopp auf!
Das Sofa fragt nie, ob man mal aufsteht. Und der Fernseher fragt nie, ob man das gerade verstanden hat, was einem gesagt wurde.
Dass der Lukas jetzt Matura macht. Dass der Elias ein Buch schreibt. Dass die Tamara im Gefängnis sitzt. Dass der Toni seine Frau schlägt. Dass der Otto gestorben ist. Dass die Oma jetzt wieder allein ist. Dass der Armin jeglichen Kontakt zur Familie abgebrochen hat.
Wie soll man denn auch?
Wie soll man sowas verstehen, wenn man immer nur im Kreis fährt? Immer von A nach A. Und der Kreis sich langsam schließt. Und die Kinderstimmen einem zurufen, dass man schneller fahren soll.
Immer tiefer in die Spirale hinein. Die Beine werden müde, vom Widerstand der Luft, die einem langsam ausgeht. Die Rundenzeiten werden kürzer, und dann, wenn man nicht mehr weiter kann, senkt sich langsam vor einem der Schranken, und aus der Ferne hört man ihn schon – den Zug.
Schalt einen Gang runter.
Und dann noch einen.
Und noch einen.
Hopp auf, Opa.
Hopp auf.
Hier gibt es den Text als PDF mit herzlichem Dank an Elias Hirschl.
- Elias Hirschl, geb. 1994 in Wien, Poetry-Slammer, Schriftsteller und Musiker. Slamtexte und Kurzgeschichten erschienen in Augustin, & Radieschen, DUM, Dichtungsring, den Lichtungen und diversen Slam-Anthologien. Romanveröffentlichungen siehe unten. Österreichischer Meister im Poetry-Slam 2014 sowie U20-Meister 2012.