Wer bei einem unabhängigen Buchverlag seine Bücher verlegt, die und den nennen wir einfach mal Indie-Autorin und Indie-Autor. Die beiden müssen das nicht immer bleiben, Literatur lässt sich nicht binden, aber es ist schön, wenn es so ist.
Beim Hotlistblog kamen bisher nur die fertigen Bücher, oft die Großform Roman, solcher AutorInnen zu Wort. Jetzt lassen wir sie direkt für uns und alle Prosa schreiben.
Heute ist wieder ein besonderer Tag für die Reihe, zu Gast ist die österreichische Künstlerin Judith Nika Pfeifer als wundervolles mutliples Ereignis mit Prosa, Lyrik und Fotos. Pfeifers erster preisgekrönter Gedichtband nichts ist wichtiger. ding kleines du. erschien 2012 beim Mitter Verlag und verleitete auch Friedericke Mayröcker zu einem „Ja, ja, ja!!!“. Beim Czernin Verlag veröffentlichte sie 2014 den Prosaband zwischen (siehe Hotlistbeitrag) und 2015 gab es wieder Gedichte: manchmal passiert minutenlang auch gar nichts erschien in der Reihe Neue Lyrik aus Österreich im Verlag Berger.
ja, wir spielen niemanden, wir sind wir. und ihr seid ihr. ja, ihr spielt jemanden und ja, wir spielen niemanden, wir sind wir und ihr seid ihr. spielregel #1
wir spielen uns und ich spiele mich. spielregel #2
ich ist viele.
ich ist eine reihe von anderen.
du ist eine reihe von ichs.
wir ist ein neuronales weltwirnetz.
ich ist ein medium. spielregel #3
wer nicht blutet, hat nicht gelebt. #4
ein hauch, einmal atmen, ein wisch, ein spritz, ein wisch. spiegel wollen wir uns sein, ganz klare spiegel. #5
Fahrgastsein
Franz Kafka remix
Ich stehe in der Mitte der Straßenbahn und fühle mich so unsicher auf dem PVC-Boden dieses durchgehbaren Wagons, wenn das denn noch ein Wagon ist und nicht beispielsweise eine Raupe, und bin vollkommen unsicher was mich betrifft, mich in dieser Stadt, in diesem Universum, in meiner Familie. Ich könnte nicht sagen, welche Rechte, welche Ansprüche ich in irgendeine Richtung haben könnte. Schon gar nicht den Anspruch, dass es mich gibt, wenn das ein Anspruch sein kann. Ich kann nicht begründen, warum ich in dieser Straßenbahn stehe, mich an dieser grauen Schlinge festhalte, von einer unsichtbaren Kraft mich ziehen lasse und verteidigen, dass die Menschen vor der Straßenbahn ausweichen oder vor mir, still stehen oder lieber in die Schaufenster sehen.
Und wer will das wissen. Niemand verlangt es zu wissen. Es ist vollkommen egal. Wir nähern uns einer Haltestelle, Westbahnstraße Ecke welche wohl, ein junger Mann zwängt sich an mir vorbei, stellt sich an die Tür, zum Aussteigen bereit, drückt den Knopf, ein Ton ertönt, er leuchtet rot. Ich sehe ihn so deutlich, als ob ich ihn berührt hätte. Er ist schwarz gekleidet, die Falten seiner Jacke bewegen sich kaum, das Hemd darunter liegt nah am Körper an, mit der linken Hand hält er sich an der Stange, in der rechten trägt er eine magentafarbene Mappe zusammengehalten von einem türkisblauen oder hellgrünen Band. Er lässt kurz die Stange los, sieht auf die Uhr an seiner linken Hand. Sein Gesicht hat etwas Sommerliches, auch wenn er sehr blasse, helle Haut hat, die Nase, an den Seiten schwach gepresst, schließt rund und schmal ab. Er hat dunkles Haar und Härchen an der linken Schläfe. Sein kleines Ohr steht leicht ab, doch sehe ich, da ich nahe stehe, den Rücken der linken Ohrmuschel, darauf ein Muttermal.
Ich fragte mich damals: Wie kommt es, dass er nicht über sich verwundert ist, dass sein Mund geschlossen ist und er nichts dergleichen sagt?
Seit einigen Tagen klebt an meiner Haltestelle ein grüner DIN A4 Zettel. „Hey, ich sah dich am Dienstag den 12. Mai 2015 um 17:12 in der Straßenbahn Linie 49. Wie kommt es, dass du über dich verwundert bist, dass du den Mund geschlossen hältst und nichts dergleichen sagst? Du hast lockige Haare, trugst eine hellgraue Jacke dazu eine grüne Tasche, darin sichtbar ein Fruchtjoghurt vielleicht Mango, standst in der Mitte des Wagons, wenn das denn noch als Wagon bezeichnet werden kann, hast mich sehr freundlich vorbeigelassen als ich in der Station Zieglergasse ausstieg. Ich bin ebenso verwundert wie du. Vielleicht liest du das hier ja.“
Ich stehe in der Mitte der Straßenbahn und fühle mich so unsicher auf dem PVC-Boden dieses durchgehbaren Wagons, dieser Raupe, bin vollkommen unsicher was mich betrifft, mich in dieser Stadt und so weiter. Ich kann nicht sagen, warum ich mich über mich wundere, warum mein Mund geschlossen ist und ich nichts sage
und ich habe nun einen Stift in der Tasche, einen schwarzen.
(Inspiriert durch, basierend auf und unter Verwendung von Zitaten aus Franz Kafkas Text Der Fahrgast sowie weiteren Texten aus dem Band Betrachtung, Rowohlt, Leipzig, 1912)
Hier gibt es diesen und weitere überraschende Remixes als PDF mit herzlichem Dank an Judith Nika Pfeifer.
Sämtliche Texte stammen aus der Anthologie Hinter dem Gesetz. Kafka, Recht und Ordnung. 12 Texte. Herausgegeben von Nadine Kegele und Manfred Müller, erschienen 2015 beim Wiener Luftschacht Verlag. In der Neuabmischung des Fahrgastes beschreibt die Autorin „das jederzeitige Herausfallen aus einer Ordnung“ und nimmt dazu Kafkas Original unters Vergrößerungsglas, ohne sich der Vorlage aufzudrängen, sucht sie vielmehr den Dialog und nimmt Kafka dabei selbst mit in die Straßenbahn.
Die weiteren lesenswerten Beiträge junger österreichischer Autorinnen und Autoren zu den Themen Gesetz, Flucht, Heimatlosigkeit, etwa von Lucas Palm, Sandra Gugić, Daniel Zipfel, Robert Prosser und Irmgard Fuchs, „können als literarischer Spiegel dieser handlungswilligen Empathiefähigkeit für weltweit aktuell sechzig Millionen flüchtende Menschen gelesen werden“. So formuliert es die Herausgeberin in ihrem Vorwort.
Senta Wagner
(Fotos: Lukas Dostal/Literaturhaus Wien; blaues Foto: Sofie Pfeifer)