Wer bei einem unabhängigen Buchverlag seine Bücher verlegt, die und den nennen wir jetzt einfach mal Indie-Autorin und Indie-Autor. Die beiden müssen das nicht immer bleiben, Literatur lässt sich nicht binden, aber es ist schön, wenn es so ist.
Im Hotlistblog kamen bisher nur die fertigen Bücher, oft die Großform Roman, solcher Autoren zu Wort. Jetzt lassen wir sie direkt für uns und alle schreiben. Heute freut es uns, dass die Jungautorin Irmgard Fuchs zu Gast ist mit längerer Prosa. Sie gehört mit ihrem aktuellen Herbstdebüt, dem poetischen Erzählungsband Wir zerschneiden die Schwerkraft, zur neuen, lustvollen und hier vorgestellten Literaturreihe des Verlags Kremayr & Scheriau.
An dieser Stelle kommt ein exklusiver Auszug aus ihrem beeindruckenden Siegertext So weit sind wir noch nicht. Irmgard Fuchs gewann damit als eine von neun Gewinnerinnen und Gewinnern den diesjährigen Ö1-Literaturwettbewerb zum Thema „Geld und Gier“. Man sieht, wie man auch aus der Finanzkrise literarisch Profit schlagen kann. Zwei Habenichtse ringen in der Geschichte um Zahlen, Quadratmeterpreise und die richtigen Worte. /sw
So weit sind wir noch nicht
Wir machen uns etwas vor. Etwas oder alles? Fragst du und ich sage, dass das doch deckungsgleich ist. Ich sage, dass wir doch ohnehin von vorne nach hinten und von hinten nach vorne alles durchgegangen sind. Alles haben wir aufgeschrieben und es ist etwas dabei herausgekommen, das nicht genügt. Etwas oder wir? Fragst du mich und ich kenne die Antwort nicht. Stattdessen reiße ich das vollgeschriebene Blatt vom Block, knülle es mit meinen Händen zusammen. Ich weiß, es wäre vermessen, es jetzt auch noch anzuzünden. Trotzdem sehne ich mich danach, das Papier mit einem Streichholz anzustecken. Ich sehe die Ränder leuchtend orange vor mir und wie sich innerhalb der glühenden Linie schwarz abzeichnet, dass das Feuer vorzudringen gedenkt. Du blickst auf meine Hand, in der das Papier liegt. Ob ich wisse, dass leere Teebeutel zu fliegen beginnen, wenn man sie aufreißt, als Rohr aufstellt und oben anzündet. Fliegen und zu Staub zerfallen. Sagst du, willst mir aber kein Streichholz geben. Wir sind gegen Feuer ohnehin nicht mehr versichert.
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Wir rechnen durch, was es kostet, sich zu verändern. Umorientieren. Sagst du. Weiterentwickeln. Neue Ufer. Ich steuere zu den Worten nichts bei, sondern schreibe Zahlen auf ein neues Blatt. Die Miete so und so, kalt. Betriebskosten, Heizung, Strom, Gas. Internet extra. Siehst du, das ist schon jetzt die Summe unserer Fixkosten. Sage ich. Und du sagst, dass das aber mehr ist, als unsere Schmerzgrenze zulässt. Schmerzgrenzen dienen doch bloß als Richtwerte. Sage ich. Richtwerte, die wir uns nicht aussuchen können. Mit fester Hand entreißt du mir den Stift und streichst die Zahlen durch. Ich schreie: DAS IST HALT SO. Und du fragst, wer sagen dürfe, was wie ist. Was soll ich darauf sagen? Denke ich. Speichel sammelt sich in meinem Mund, ich schlucke und sehe, wie du schaust. Wie du darauf wartest, dass ich dir eine Erklärung biete, die es einfacher macht. Es drängt mich danach, sie zu geben.
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Du sitzt da und fixierst den Zettel mit dem hässlichen Briefkopf. Er ist ein stilisiertes Haus, die Betreffzeile ist durch dicke, rote Buchstaben hervorgehoben. Du sitzt da und der Brief liegt dort, das Deckenlicht ist ausgeschaltet, die sonst rote Digitalanzeige des Radios leuchtet nicht. Zwischen dir und mir, in uns und um uns ist es jetzt still.
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Du wartest auf mich. Du hoffst, dass ich das Schweigen beende. Und ich will auch etwas sagen, unbedingt, weil ich weiß, dass es nur weiter gehen kann, wenn die Worte zwischen uns nicht aufhören. Die Stille ist das Schlimmste, zwischen uns. In der Stille verlieren wir uns ganz. In unserer Angst und der Dunkelheit, in die uns das Denken an die Zukunft drängt. Darum öffne ich den Mund und will sagen: Achtzigtausend. Will sagen. Ich weiß nicht mehr genau, wer es gesagt oder geschrieben hat. Ich weiß nicht mehr, ob überhaupt jemals jemand irgendwas. Gemeint. Oder ob ich nur gedacht habe, dass. Ich will sagen. Ein Skandal ist das doch. Die einen haben kein Zuhause, erfrieren, werden bei Regen nass, schlafen am Boden. Und die anderen halten die Wohnungen zurück. Achtzigtausend Möglichkeiten. Die Summe würde uns von uns selbst ablenken. Vielleicht nur für einen Augenblick, aber der könnte schon ausreichend sein. Ein Stück weit öffne ich den Mund, aber der Satz will nicht heraus. Die Zahl legt sich quer.
Es ist kompliziert. Sage ich. Endlich. Und du lachst. Nicht belustigt, nicht erleichtert. Es ist einfach nur ein Geräusch.
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Als Kind. Sagst du. Als Kind hättest du blaue Kaugummis, die die einzeln zu kaufen waren, die mit den Sammel-Pickerln, zuerst gekauft, die Pickerl herausgezogen und dann die Pickerl zum vollen Preis ohne die Kaugummis in der Schule weiterverkauft. Ein Sammelalbum-Wahn sei das gewesen, habe dir einen Markt geschaffen, auf dem die Kinder dir die Pickerl geradezu aus der Hand gerissen hätten, denn selbst hätten sie sie ja zusammen mit dem Kaugummi kaufen müssen, was unmöglich gewesen war, für Kinder, die nur in Anwesenheit der Eltern in den Supermarkt kamen. Eltern, hätten ihren behüteten Kindern nämlich diese blauen, klebrig-zuckrigen Kaugummis verboten. Denn für die Erwachsenen seien die blauen Kaugummis primitiv gewesen. Oder anders gesagt, die Kaugummis hätten die Kinder der Erwachsenen für die Erwachsenen zu Primitiven gemacht. Mit den blauen Zungen und den blauen Zähnen und den blauen Lippen. Keine Eltern wollten sehen, dass ihre Kinder auch so sein könnten. Nur du hättest diesen Luxus gehabt, den ganzen Tag und immer allein, die anderen in der Arbeit. Und so hättest du eben in Begleitung deines Taschengeldes im Supermarkt in aller Ruhe die Kaugummivorräte aufkaufen können. Eine Win-Win Situation. Sagst du. Nach Traube hätten sie geschmeckt, die Kaugummis, wenn du sie in den Pausen gekaut hast. Sagst du. Danach, dass du anders seiest als die anderen, die manisch ihre Sammelalben mit den Pickerln voll geklebt hätten. Sie hätten alle die gleichen, dummen Sammelalben gehabt, nur du einen blauen Mund.
So sei die Sache allerdings auch aufgeflogen.
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Ich stehe auf, gehe zur Küchenzeile, hole aus dem Küchenschrank die metallene Salatschüssel, ziehe die Schublade auf, hole aus der Schublade das Feuerzeug und setze mich dir gegenüber zurück an den Tisch. Dann lege ich das zusammengeknüllte Blatt, den Kündigungsbrief der Gebäudeverwaltung und die Kontoauszüge, die auch auf dem Tisch ausgebreitet liegen, in die Schüssel und zünde alles an.
- Irmgard Fuchs, geb. 1984 in Salzburg, lebt in Wien. Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft sowie Sprachkunst. Derzeit Teilnahme an der Drehbuchwerkstatt München (Zürich/Steiermark) an der HFF München. Stipendien und Auszeichnungen, zuletzt: Wiener Literatur Stipendium 2013, Nominierung zum Leonce-und-Lena-Lyrikpreis 2015.
Alle neun Siegertexte des Wettbewerbs erscheinen in Buchform im Dezember 2015 beim Braumüller Verlag in Wien.
Foto Fuchs: http://www.detailsinn.at