Vorweg eine Warnung: Dieser Comic „enthält Anomalien, die nicht nur geplant, sondern sogar Thema diese Buches sind“. So steht es auf dem Rücken von Marc-Antoine Mathieus neuestem Band Die Verschiebung, der – wie die vorangegangenen Bände der Serie auch – in deutscher Übersetzung bei Reprodukt erschienen ist. Genauer gesagt ist dieser Warnhinweis auf einer roten Bauchbinde zu lesen, denn – und damit gehen die Merkwürdigkeiten los – der Comic des französischen Zeichners beginnt mit Seite 7. Und die befindet sich auf dem Cover des Bandes. Die Rückseite des Heftes wird von Seite 6 eingenommen.
Der Leser wird also mitten in eine Geschichte geworfen, deren Anfang er verpasst hat. Dieses Schicksal teilt er mit dem Protagonisten der Erzählung. Julius Corentin Acquefacques ist Angestellter im Ministerium für Humor und in einer kafkaesken Welt zu Hause. In den ersten Panels sieht man ihn in seinem Bett durch die Luft rauschen. Das ist für ihn nichts Ungewöhnliches, denn seine Abenteuer beginnen meistens damit, dass er unsanft aus seinem Bett fällt und dadurch aus unruhigen Träumen erwacht. Im aktuellen Band wacht Acquefacques jedoch nicht rechtzeitig auf und verpasst damit den Einstieg in seine Geschichte. Als er erwacht, ist es bereits zu spät und er kann nur zusehen, wie seine Freunde auf der Suche nach ihm durch einen scheinbar endlosen, leeren Raum irren.
Auch im sechsten Band seiner Serie gelingt es Marc-Antoine Mathieu wunderbar, die Frage nach dem Zusammenhang von Raum und Zeit mit den spezifischen Mitteln des Comics zu thematisieren. So werden, als sich der Raum langsam immer weiter ausdehnt, erst die einzelnen Panels immer größer, dann irren die Figuren, als die Horizontlinie schon längst verschwunden ist, in einem weißen Raum zwischen angedeuteten Panelrahmen umher und schließlich sind überhaupt keine Panelgrenzen mehr auf der Seite zu sehen. Analog zu dieser Ausdehnung der Raumes scheint auch die Zeit sich zu dehnen. Oder steht sie eher still? Man sieht die Figuren über eine endlose weiße Ebene laufen, ohne einen Anhaltspunkt dafür, wie lange die Gruppe bereits durch dieses Nichts unterwegs ist. Und auch die Gespräche scheinen sich im Kreis zu drehen bzw. zu wiederholen.
Mathieus Comics sind immer auch eine kluge Reflexion über das Zusammenspiel von Raum und Zeit im Medium Comic. In Der Anfang vom Ende gerät der Protagonist in eine Spiegelwelt, in der die Zeit rückwärts zu laufen scheint, in Die 2,333. Dimension stürzt er hinter der Horizontlinie in die Tiefe und reißt den perspektivischen Fluchtpunkt mit sich. Jeder der Bände hat dabei eine gestalterische Besonderheit. So liegt dem letztgenannten Band eine 3D-Brille bei, und in Der Ursprung findet sich in einer der Seiten ein Loch in der Größe eines einzelnen Panels. Dieser erste Band der Serie ist zudem inhaltlich das Gegenstück zum neuesten Band Die Verschiebung. Während Acquefacques hier den Anfang seiner Geschichte verpasst hat und ihr quasi hinterherläuft, entdeckt er dort ein Comicheft, in dem er selbst die Hauptfigur ist – und wird von der Erzählung beinahe überrollt.
Eine Leseprobe der Verschiebung gibt es hier.
Einen Überblick über alle Bände der Serie um Julius Corentin Acquefacques findet sich hier.
(uf)
Marc-Antoine Mathieu: Die Verschiebung. Berlin: Reprodukt. 2015. 56 Seiten. ISBN: 978-3-95640-020-9. 18,- Euro.
Marc-Antoine Mathieu scheint mir ein Enkel von Winsor McCay zu sein, schon was die unsanften Träume betrifft, aus denen, oder in die hinein, man fällt. Nennt er diesen großen Meister des Comics irgendwo? Michel Tournier hat freilich gesagt, dass Hans Chr. Andersen unfair gewesen sei, vor ihm geboren zu werden, weil es eigentlich alles seine, Tourniers, Ideen sind.